Die Erben von Midkemia 1 - Der Silberfalke
Der Übergang
Der Junge wartete.
Schaudernd rückte er näher zu den niedergebrannten Überresten seines jämmerlich kleinen Feuers. Er hatte viel zu wenig geschlafen und daher dunkle Ringe unter den hellblauen Augen. Leise wiederholte er die Rezitation, die er von seinem Vater gelernt hatte; er hatte die heiligen Worte schon so oft gesprochen, dass seine trockenen Lippen aufgerissen waren und seine Stimme heiser war.
Sein beinahe schwarzes Haar war verfilzt und staubig, weil er auf dem Boden geschlafen hatte - und dabei war er doch so entschlossen gewesen, wach zu bleiben, während er auf seine Vision wartete! Aber am Ende hatte ihn die Erschöpfung doch überwältigt. Er war ohnehin schlank, aber nun hatte er so abgenommen, dass er hager und bleich geworden war und sich seine ausgeprägten Wangenknochen noch deutlicher abzeichneten. Er war nur mit dem Lendenschurz eines Suchenden bekleidet. Schon in der ersten Nacht hier draußen hatten ihm sein Lederhemd und die Hose, seine festen Stiefel und der dunkelgrüne Umhang sehr gefehlt.
Am Himmel wich das Dunkel jenem Grau, das den Tagesanbruch ankündigt, und die Sterne verblassten allmählich. Es war, als hielte sogar der Wind die Luft an und wartete auf das erste Atemholen, die ersten Regungen des neuen Tages.
Diese Stille war ungewöhnlich, ebenso beunruhigend wie faszinierend, und der Junge hielt im Einklang mit seiner Umgebung ebenfalls einen Augenblick die Luft an. Dann berührte ihn ein Hauch, der sanfte Atem der Nacht erklang seufzend, und der Junge holte wieder Luft.
Als der Himmel im Osten heller wurde, streckte der Junge den Arm aus und griff nach einer Kürbisflasche. Er trank das Wasser darin und versuchte, es zu genießen, denn das war alles, was er zu sich nehmen durfte, bis er seine Vision gehabt hatte und den Bach erreichen würde, der auf seinem Rückweg zum Dorf den Weg kreuzte.
Seit zwei Tagen hatte er unterhalb des Gipfels des Shatana Higo gesessen, an jenem Ort, an dem die Jungen seines Volkes zu Männern wurden, und auf seine Vision gewartet. Er hatte bereits die letzten beiden Tage im Dorf gefastet und nur Kräutertee und Wasser getrunken, dann hatte er die traditionelle Kriegermahlzeit zu sich genommen - Trockenfleisch, hartes Fladenbrot und Wasser mit bitteren Kräutern - und war einen halben Tag den staubigen Weg zum Osthang des heiligen Bergs hinaufgestiegen bis zur kleinen Senke ein Dutzend Schritte unter dem Gipfel. Diese Lichtung war kaum groß genug, um einem halben Dutzend Menschen Platz zu bieten, aber als der Junge sie nach seiner Wanderung am dritten Tag der Zeremonie erreichte, war sie ihm riesig und leer vorgekommen. Seine Kindheit in einem großen Haus mit vielen Verwandten hatte ihn nicht auf solche Isolation vorbereitet, und dies war das erste Mal in seinem Leben, dass er mehr als ein paar Stunden allein verbracht hatte.
Wie es bei den Orosini üblich war, hatte der Junge die rituelle Vorbereitung auf den Tag, an dem er zum Mann werden würde, am dritten Tag vor dem Mittsommerfest begonnen, das die Tiefländer Banpis nannten. Er würde das neue Jahr und das Ende seiner Kindheit feierlich begehen, indem er über die Überlieferung seiner Familie und seines Clans, seines Stammes und seines Volkes nachdachte und versuchte, damit die Weisheit seiner Ahnen heraufzubeschwören. Es war eine Zeit tiefer Innenansicht und Meditation, in der ein Junge versuchte, seinen Platz im Universum zu begreifen, die Rolle, die die Götter ihm zugedacht hatten. Und an diesem Tag sollte er sich auch seinen Männernamen erwerben. Wenn alles so verlief, wie es geschehen sollte, würde er am Abend des Mittsommerfests wieder bei seiner Familie und seinem Clan sein.
Als Kind war er Kieli gerufen worden, eine Kurzform von Kielianapuna, dem Wort, mit dem sein Volk das Rote Eichhörnchen bezeichnete. Diese Waldbewohner, die man selten zu sehen bekam, obwohl sie sich stets in der Nähe aufhielten, wurden