Die Shannara-Chroniken - Elfensteine
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Die nahe Morgendämmerung erhellte schwach den nächtlichen Himmel, als die Erwählten den Garten des Lebens betraten. Draußen lag in tiefem Schlaf die Elfenstadt Arborlon, deren Bewohner noch die Wärme und Geborgenheit ihrer Betten genossen. Für die Erwählten hatte der Tag jedoch bereits begonnen. Ihre wallenden weißen Gewänder bauschten sich leicht in der sommerlichen Brise, als sie zwischen den Posten der Schwarzen Wache hindurchschritten, die - wie über Jahrhunderte hinweg eine endlose Zahl ihrer Vorgänger - starr und unbewegt vor dem gewölbten schmiedeeisernen Tor mit den kunstvollen Einlegearbeiten in Silber und Elfenbein standen. Die Erwählten eilten zwischen ihnen hindurch, und nur ihre leisen Stimmen und das Knirschen unter ihren mit Sandalen bekleideten Füßen störten die Stille des neuen Tages, als sie in die tiefen Schatten des Föhrenhains traten.
Die Erwählten waren die Hüter des Ellcrys, dieses seltsamen und wunderbaren Baumes, des alles überragenden Mittelpunkts des Gartens. Dieser Baum, so berichtete die Legende, schützte seit grauer Vorzeit das Elfenreich vor bösen Mächten, die schon vor Jahrhunderten das Volk der Elfen beinahe vernichtet hätten und die noch in einer Epoche, die weit vor dem Erwachen der Menschheit lag, von der Erde verbannt worden waren. In den folgenden Jahrhunderten hatten sich stets Erwählte gefunden, die den Ellcrys hegten und pflegten. Sie folgten einer Tradition, die von Elfengeneration zu Elfengeneration weitergereicht worden war, und die Elfen betrachteten die Aufgabe, die den Erwählten auferlegt war, als hohe Ehre und feierliche Pflicht.
Von Feierlichkeit jedoch war bei der Prozession, die an diesem Morgen durch den Garten zog, kaum etwas zu spüren. Zweihundertdreißig Tage ihres Dienstjahres lagen hinter ihnen, und das jugendliche Feuer in ihren Adern ließ sich nicht länger unterdrücken. Das anfängliche Gefühl tiefer Ehrfurcht vor der hohen Verantwortung, die man ihnen übertragen hatte, war längst verflogen, und die Erwählten, sechs junge Männer, würden nur eine Aufgabe erledigen, die ihnen seit ihrer Erwählung zur vertrauten Gewohnheit geworden war: die Begrüßung des Baums bei den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne. Nur Lauren, der jüngste Erwählte dieses Jahres, war still und in sich gekehrt. Er blieb ein paar Schritte hinter den anderen zurück und beteiligte sich nicht an ihrem übermütigen Geplauder. In Gedanken versunken hielt er den Rotschopf gesenkt, und auf seiner Stirn stand eine tiefe Falte der Nachdenklichkeit. Er war so sehr mit seinen Gedanken beschäftigt, dass es ihm sogar entging, als das Geplapper vor ihm verstummte und sich einer der anderen umwandte und zu ihm gesellte. Erst als eine Hand seinen Arm berührte, hob er überrascht den Blick und bemerkte, dass Jase ihn forschend betrachtete.
"Was ist mit dir, Lauren? Fühlst du dich nicht wohl?", fragte Jase. Er war einige Monate älter als die anderen Erwählten, die ihn deshalb als Führer akzeptierten.
Lauren schüttelte den Kopf, doch die Besorgnis wich nicht ganz aus seinem Gesicht.
"Nein, nein, es geht mir gut."
"Aber du wirkst bedrückt. Den ganzen Morgen grübelst du schon. Ja, und gestern Abend warst du auch so still und schweigsam." Jase legte dem jungen Mann die Hand auf die Schulter und drehte ihn herum, so dass Lauren ihm ins Gesicht sehen musste. "Komm schon, heraus mit der Sprache. Niemand erwartet von dir, dass du am Morgendienst teilnimmst, wenn du dich nicht wohl fühlst."
Lauren zögerte, dann seufzte er und nickte.
"Also gut, es geht um den Ellcrys. Gestern Abend bei Sonnenuntergang hatte ich den Eindruck, dass Flecken auf seinen Blättern sind. Es sah aus wie Welke."
"Welke? Im Ernst? Solche Krankheiten befallen den Ellcrys nicht - zumindest hat man uns das erzählt", erwiderte Jase skeptisch.
"Ich kann mich ja getäuscht haben", räumte Lauren ein. "Es dämmerte schon. Wahrscheinlich waren es nur Schatten auf den Bl