Splitter aus Silber und Eis
Krokusse und Opfergabe
24. Tag des Julmondes
Veris
Am Morgen vor dem Tag des Julfestes wache ich auf, gebettet in Seidendecken und Kissen mit den sanftesten Daunenfedern. Alles, was ich höre, ist Stille. Das ist nichts Ungewöhnliches, denn so früh am Morgen dringen nur wenige Stadtgeräusche aus Salweide in mein Turmzimmer. Die Stille ist anders als sonst, aber vielleicht bilde ich mir den Unterschied nur ein. Schließlich ändert sich heute mein Leben.
Ich schiebe die Decke zur Seite und hülle mich in meinen Morgenmantel. Unsere Hofschneiderin hat ihn mit Pflanzenextrakten in zartem Lindgrün eingefärbt und mit Goldfäden bestickt. Die Farben unseres Königreiches Aurum, ein Zeichen der Fruchtbarkeit und des Gedeihens. Es sind Farben, die ich gleichermaßen liebe, wie ich mich an ihnen sattgesehen habe. Während ich den Morgenmantel zubinde, lehne ich mich aus dem geöffneten Fenster. Ich weiß nicht, wer lauter schreien würde, aber sowohl meine Zofe als auch meine Mutter wären außer sich, wenn sie das sehen würden. Doch ich will einen Blick hinauswerfen, ohne dass die Mauern mein Sichtfeld einschränken.
Obwohl die Morgensonne schon so strahlt, wie es sich für den ewigen Frühling gehört, weht mir hier oben kühle Luft über das Gesicht und ich schließe kurz die Augen. Den Ausblick sehe ich selbst mit geschlossenen Lidern. Die wehenden Seidenbanner, geschmückt mit der Goldlerche, Aurums Wappentier, dann Sandsteinterrassen, spitze Giebeldächer und Innenhöfe, in denen ich als Kind inmitten von Krokussen gespielt habe. An die Burgmauer und an alle Seiten des Berges, auf dem Burg Goldwacht steht, schmiegen sich die Fachwerkhäuser mit ihren alten Ziegeldächern und Balkonen voller Blumenkästen. Schmale Gassen schlängeln sich durch Salweide, doch die Häuser stehen so dicht, dass ich die einzelnen Gebäude nicht ausmachen kann. Früher habe ich mir immer gewünscht, frei durch diese Gassen spazieren zu können - heute würde ich alles dafür geben, die Stadt für immer von meinem Turm aus beobachten zu können.
Die Tür zu meinem Zimmer knarzt und ich weiche vom Fenster zurück. Meine Finger greifen automatisch nach dem Griff des Dolches, der an meinem Oberschenkel befestigt ist. Zu dieser Vorsicht wurde ich von Kindertagen an erzogen, so wie jedes Mädchen in unserem Reich.
Doch nur meine Zofe Isobela tritt herein. »Es ist so weit, Prinzessin Veris.« Sie spricht mich sonst nie so förmlich an. Und ihr Haar ist unter der lindgrünen Kappe der Bediensteten verborgen. Obwohl die Kopfbedeckung Pflicht ist, zwängt sie ihre braunen Locken normalerweise nicht darunter. Meine Erlaubnis reicht aus, damit sie nicht von der Hausvorsteherin bestraft wird. Heute allerdings hält sie sich an die Regeln. Heute tut das jeder.
»Das Kleid ist fertig?«, frage ich mit bebender Stimme.
Eine jüngere Zofe tritt herein und legt eine gigantische Schachtel auf mein Bett. Isobela scheucht sie sofort wieder hinaus und schiebt mich zu meinem Frisiertisch. Ich beobachte im Spiegel, wie ihre geschickten Finger meine blonden Locken aus dem hüftlangen Zopf lösen. Vergeblich suche ich nach ihrem breiten Lächeln. Ich bin die Prinzessin des Frühlingsreiches, doch üblicherweise ist es ihr Lächeln, das mit dem Strahlen der Frühlingssonne konkurriert. Vielleicht kann ich ebenso lächeln, nachdem ich mein Schicksal erfüllt habe. Entweder das - oder ich sterbe bei dem Versuch. Und aller Voraussicht nach sterbe ich, so wie all die Sakrale vor mir. Das ist der Grund, warum meine Stimme zittert und Isobela heute nicht lächelt.
Denn Aurum, das Reich des Ewigen Frühlings, hat einst eine Übereinkunft mit unserem Nachbarvolk, den Winterfae, geschlossen. Mit ihrem grausamen Herrscher, dem Prinzen des Winters. Jedes Jahr zum Julfest schicken wir ein Sakral, das schönste zwanzigjährige Mädchen, in sein Reich. Im Gegenzug verschont er unsere Ländereien vor seinem winterlichen Zorn. Falls aber die