Zeitenliebe: Zwei Seelen in einem Herz (Band 2)
KAPITEL 2
Auf dem langen Gang hob Helena die Röcke an und hetzte die Stufen hinunter bis vor die Tür des Rittersaals. Obwohl die Burgmauern eine frostige Kälte ausstrahlten, spürte Helena, wie ihr der Schweiß ausbrach. Sie richtete ihre Kleider, straffte die Schultern und atmete zweimal tief durch, bevor sie den Saal betrat. Die vielen Kerzen der Kronleuchter und der Kandelaber erhellten den Raum. Im Kamin, der der einzige in der ganzen Burg war, brannte ein Feuer, das angenehme Wärme verströmte. Der Rittersaal war der übliche Aufenthaltsort des anwesenden Adels. Hier nahm man gemeinsam die Mahlzeiten ein, spielte und sang abends zur Unterhaltung. Da es an der Zeit für das Mittagsmahl war, saß die Großzahl der Ritter und Edelfrauen bereits an ihren Tafeln.
Eine Gruppe von sieben wohlhabend gekleideten Männern stand abseits vor einem Fenster. Die Edelleute, die Helena allesamt unbekannt waren, sprachen miteinander in leisem Ton und verstummten, als sie sie bemerkten.
Wilhelm kam Helena entgegen und begrüßte sie mit ungewöhnlich lauter Stimme, um den Neuankömmlingen jeden Zweifel an ihrer Identität zu nehmen.
»Erzherzogin Helena, darf ich Euch Euren Vormund, Herzog Syxt von Dietzlin, vorstellen?«
Erleichtert, dass Wilhelm ihr nicht von der Seite weichen würde, nickte Helena und folgte ihm zu den fremden Männern. Der Größte von ihnen, der die Erzherzogin um fast zwei Köpfe überragte, trat vor und deutete eine Verbeugung an.
»Königliche Hoheit, Eure Schönheit ist nicht in Worte zu fassen und ich kann mich glücklich schätzen Euch mein Mündel nennen zu dürfen.«
Syxt hatte seine blonden Haare mit einem blauen Band im Nacken zu einem Zopf gebunden. Sein Rock, der sich um seine breiten Schultern spannte, hatte denselben Farbton wie die Haarschleife. Die engen Kniehosen zeigten kräftige Männerbeine, die wegen seiner Körpergröße endlos erschienen. Neugierig betrachtete Helena das formvollendete Gesicht des Herzogs. Die lange Nase und die Kerbe in seinem Kinn unterstrichen seine beeindruckend männliche Aura.
Obwohl seine schmalen Lippen freundlich lächelten, musterten seine braunen Augen sie auf unverschämte und zugleich abschätzende Weise. Es schien, als saugten sie jede Einzelheit von Helenas Antlitz auf, um weiter an ihrem Hals entlangzugleiten und dann ihre Figur abzutasten. Angesichts dieses Gebarens verschlug es Helena den Atem, denn noch nie hatte ein Mann es gewagt, sie auf diese dreiste Art zu begutachten. Wäre ihr Vater noch am Leben, hätte sich der Herzog dies niemals erlaubt. Nein, das stimmte so nicht ganz, denn wäre ihr Vater noch hier, bestände überhaupt kein Grund für Syxts Anwesenheit.
Übelkeit stieg in Helena auf, als sie Syxt mit einer unguten Vorahnung ihre Hand reichte. Ohne den Blickkontakt abreißen zu lassen, küsste dieser ihren Handrücken und voller stummem Entsetzen spürte Helena für den Bruchteil einer Sekunde seine Zungenspitze auf ihrer Haut. Ein teuflisches Blitzen und ein schief verzogener Mundwinkel in Syxts überheblichem Mienenspiel offenbarten, dass er den Schrecken durchaus beabsichtigt hatte.
»Als ich am Fenster stand, durfte ich beobachten, dass Ihr eine ausgezeichnete Reiterin seid.«
Mit einer zynischen Bewegung seiner hellen Braue gab der Herzog dem Kompliment einen zweifelhaften Beigeschmack, den Helena nicht ganz durchschaute. Dennoch nahm sie ihn wahr und traute sich deswegen nur zu nicken.
»Habt Ihr noch andere Talente, die einen Ehemann beglücken könnten?«
Wilhelms Gesichtsfarbe wechselte von Weiß zu Rot, was Helena die Gewissheit gab, dass sie sich nicht getäuscht hatte - in der unterschwelligen Unverschämtheit, die in den Sätzen des Herzogs verborgen lag.
Als gut behütetes Edelfräulein hatte sie nie ein Ritter bedrängt. Zwar hatte es oft Feste gegeben, wo Gäste oder die Ritter ihres Vaters sich betranken und ausgelassen feierten, doch niemals hätte sich einer der Männer getraut