Alabasterball
D as war es also: Kallystoga. Nervös starrte Amy auf die näher kommende Insel. Von beiden Seiten spritzte das Wasser des Thousand Island Pond über die Reling des kleinen Motorbootes und Amy musste sich gut festhalten, um nicht über Bord zu gehen. Stürmischer Wind pfiff ihr um die Ohren und sie war froh, dass sie den schwarzen Fransenponcho angezogen hatte, den Sunny ihr letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt hatte.
Wie dumm sie damals gewesen war! Amy hätte ahnen müssen, dass Sunny sich ihre Einladung und das Kleid "ausleihen" würde, um Ballkönigin zu werden. Und dass es schiefgehen würde. Denn seit Sunny Kallystoga betreten hatte, fehlte jede Spur von ihr.
Deshalb würde Amy ihre Suche hier beginnen. Um sich zu beruhigen, betrachtete sie den Ring an ihrer linken Hand. Sie hatte sich aus der kupfernen Rose, die sie damals von ihrem Ballkleid abgeschnitten hatte, und winzigen Perlen einen Talisman gemacht, und zwar genau so, wie Sunny es getan hätte. Drei grüne Perlen, sieben blaue und das Ganze viermal. Damit wollte Amy sich nicht nur Mut für ihre Mission machen, sondern sich auch daran erinnern, dass sie hier als Loreley Schillinger antreten musste.
Es war fast unmöglich gewesen, eine der diesjährigen Alabasterball-Kandidatinnen ausfindig zu machen. Erst durch einen Instagram-Beitrag, auf dem Loreley das Paket fotografiert hatte, war Amy auf sie aufmerksam geworden.
Die echte Loreley lebte zwar auch in Deutschland, also hatten sie sich treffen können, aber sie dazu zu bringen, auf ihre Einladung zum Alabasterball zu verzichten, war alles andere als einfach gewesen. Als Amy ihr verraten hatte, warum sie unbedingt nach Kallystoga musste, war sie dabei in Tränen ausgebrochen. Das hatte Loreley zwar gerührt, allerdings nicht so sehr, dass sie bereit gewesen wäre, auf all das Geld zu verzichten, das die Strandhams ihr in Aussicht stellten.
Also hatte Amy ihr das Kleid und die Tickets abgekauft, und ihr noch dazu einen dicken Bonus ausgezahlt. Dafür war ihr gesamtes Erspartes draufgegangen sowie ein Zuschuss von Jonas, der sich genauso um Sunny sorgte wie sie.
Zudem musste sie Loreley versprechen, ihr nach dem Ball das Kleid zurückzugeben. Professionell gereinigt, natürlich.
Im Austausch dafür hatte Loreley ihr alles über sich erzählt, damit Amy ihre Rolle auf Kallystoga auch perfekt spielen konnte. Und um ganz sicherzugehen, hatte Amy sich dann auch noch wie Loreley ihre Haare schwarz gefärbt. Falls einer der anderen Kandidaten ebenfalls recherchiert hatte.
Als ihre Mutter über diese Veränderung ziemlich erstaunt war, hatte Amy mit sehr schlechtem Gewissen behauptet, sie fände, es wäre jetzt, nach dem Abi, Zeit für eine Veränderung. Und sie hatte ihre Mom gefragt, ob es okay für sie wäre, wenn sie ihre Freundin Martha besuchen würde, die in New York als Au-pair arbeitete.
Ihre Mutter hatte nichts dagegen. Sie fand, Amy hätte nach allem, was passiert war, eine Auszeit verdient, und sie war stolz, dass ihre Tochter das Abi geschafft hatte. Und natürlich musste man es einfach ausnutzen, wenn man in New York eine Freundin hatte, bei der man wohnen konnte.
Amy hatte sich schon Bilder von New York runtergeladen, die sie ihrer Mutter per WhatsApp schicken wollte, damit die sich keine Sorgen machte. Schlimm genug, dass Sunny verschwunden war. Ein Grund mehr, dafür zu sorgen, dass sie alle beide wieder gesund zurückkamen.
Alles war also perfekt vorbereitet. Jetzt galt es nur noch, keine Fehler zu machen, sobald sie den Strandhams begegnete.
Je größer die Insel vor ihr wurde, desto kleiner fühlte sich Amy. Natürlich hatte sie seit Sunnys Verschwinden immer wieder Bilder von Kallystoga und dem Schloss angeschaut. Aber es war ein gewaltiger Unterschied zwischen dem Schloss auf einem Monitor und dem mächtigen Ungetüm, das sich vor ihr auf der Insel erhob.
Das also war der Ort, von dem Sunny spurlos verschwund