Die Tribute von Panem X
Teil I Der Mentor
1
Coriolanus ließ den Kohl in den Topf mit kochendem Wasser gleiten und schwor sich, ihn eines Tages für immer vom Speiseplan zu verbannen. Doch dieser Tag lag in weiter Ferne. Er musste das schlabbrige Zeug essen und die wässrige Brühe trinken, damit sein Magen während der Erntezeremonie nicht knurrte. Nur eine Vorsichtsmaßnahme von vielen, die darüber hinwegtäuschen sollte, dass seine Familie genauso arm wie der Abschaum aus den Distrikten war, auch wenn sie ein Penthouse in der besten Lage des Kapitols bewohnte. Der Erbe des einst so großen Hauses Snow hatte im Alter von achtzehn Jahren nichts mehr im Leben außer seinen scharfen Verstand.
Das Hemd, das er zur Ernte tragen wollte, machte ihm Sorgen. Er hatte sich letztes Jahr auf dem Schwarzmarkt eine passable dunkle Anzughose gekauft, aber das Hemd sahen die Leute immer zuerst. Die Alltagsuniformen wurden zum Glück von der Akademie gestellt. Zu der heutigen Zeremonie jedoch mussten die Schüler modisch und dem Anlass entsprechend festlich gekleidet erscheinen. Tigris hatte gesagt, er solle ihr vertrauen, und das tat er auch. Seine Cousine, die so geschickt mit Nadel und Faden umgehen konnte, hatte ihn bis jetzt immer gerettet. Aber er konnte keine Wunder erwarten.
Das Hemd seines Vaters, das sie aus dem Wandschrank ausgegraben hatten, war mittlerweile fleckig und vergilbt, die Hälfte der Knöpfe fehlte, eine Manschette hatte einen Brandfleck. Das sollte sein Hemd für die Erntefeierlichkeiten sein? Schon im Morgengrauen war er ins Zimmer seiner Cousine gegangen, hatte aber weder sie noch das Hemd vorgefunden. Kein gutes Zeichen. Hatte Tigris aufgegeben und versuchte jetzt verzweifelt, auf dem Schwarzmarkt noch schnell brauchbaren Ersatz aufzutreiben? Aber was könnte sie schon zum Tausch anbieten? Höchstens sich selbst, doch so tief waren die Snows noch nicht gesunken. Oder sanken sie gerade so tief, während er den Kohl salzte?
Er stellte sich vor, wie gierige Blicke sie verfolgten. Tigris war mit ihrer langen, spitzen Nase und dem mageren Körper keine Schönheit, aber sie strahlte so etwas Zartes und Verletzliches aus, dass es gewisse Männer auf falsche Gedanken brachte. Wenn sie es darauf anlegte, würde sie schon jemanden finden. Bei der Vorstellung fühlte er sich elend und hilflos und ekelte sich vor sich selbst.
Im hinteren Teil der Wohnung wurde die Aufnahme der Hymne des Kapitols, Juwel von Panem , eingeschaltet. Der bebende Sopran seiner Großmutter stimmte ein und schallte durch die Wohnung.
Juwel von Panem,
Mächtige Stadt,
Durch die Zeiten erstrahlst du aufs Neue.
Sie sang etwas zu langsam und wie immer so schief, dass es wehtat. Im ersten Kriegsjahr hatte sie dem fünfjährigen Coriolanus und der achtjährigen Tigris die Aufnahme nur an den Nationalfeiertagen vorgespielt, um ihren Patriotismus zu stärken. Erst seit jenem schwarzen Tag, an dem die Rebellen das Kapitol eingekesselt und zwei Kriegsjahre lang von allen Lebensmittelvorräten abgeschnitten hatten, wurde die Hymne täglich gesungen. "Denkt daran, Kinder", sagte sie, "wir sind nur belagert - wir haben uns nicht ergeben!" Dann trällerte sie mitten im Bombenhagel die Hymne zum Fenster hinaus. Ihr bescheidener Akt des Widerstands.
Wir knien voll Demut
Vor dir, unserem höchsten Gut.
Und dann die Töne, die sie nie ganz traf:
Und schwören dir unsere Treue!
Coriolanus zuckte leicht zusammen. Seit zehn Jahren waren die Rebellen nun schon ruhig, aber seine Großmutter nicht. Noch zwei Strophen.
Juwel von Panem,
Herz der Gerechtigkeit,
Weisheit deine Stirn aus Marmor krönt.
Er überlegte, ob mehr Möbel den Lärm dämmen würden, aber das war eine rein theoretische Frage. Ihr Penthouse war derzeit ein Mikrokosmos des Kapitols selbst,