Don't Kiss Ray
1
Samstagmorgen, wir stehen auf dem Schulparkplatz und hören uns zum tausendsten Mal die Warnungen unserer Eltern vor Drogen, Alkohol und Sex an. Dann, endlich, steigen wir in den Van, und Paul, der seit einem Monat den Führerschein hat, lässt den Motor an und gibt Gas. Ich sehe meine Mutter winken und werfe ihr eine Kusshand zu, ehe wir um die Ecke biegen.
»YES!«, schnauft Fabienne. »Das wäre geschafft. Leute, die Freiheit liegt vor uns, ist das nicht der Wahnsinn?« Mit glänzenden Augen dreht sie sich zu uns um.
»Mann, ich dachte schon, sie hören nie mehr auf, uns vollzulabern«, stöhnt Jonas. Er sitzt mit Katja Händchen haltend ganz hinten, Linda und ich haben die mittlere Bank der Familienkutsche, die Pauls und Fabiennes Eltern gehört.
»Nur weil die sich vor hundert Jahren auf den Open Airs bis zum Anschlag zugedröhnt haben, denken sie, wir machen das genauso«, analysiert Linda glasklar, und ich sage: »Ein Wunder, dass sie uns überhaupt weggelassen haben.«
»Das habt ihr nur mir zu verdanken«, verkündet Paul. »Eurer erwachsenen, volljährigen Aufsichtsperson. Also benehmt euch, Kiddies, und tut immer schön, was ich sage.« Er sucht im Rückspiegel Augenkontakt mit Linda und mir und fügt breit grinsend hinzu: »Und ihr Mädels überlegt euch schon mal, wie ihr euch bei mir revanchieren könnt.«
»Träum weiter«, sagt Linda.
Hinter uns lässt Jonas sein typisches grunzendes Lachen hören.
»Komm wieder runter und schau gefälligst auf die Straße.« Um ihre Worte zu unterstreichen, schnippt Fabienne, die neben Paul sitzt, mit dem Finger gegen sein rechtes Ohr.
Die Fahrt ist lang und die Gegend öde, und weil ich vor lauter Aufregung zu einer aberwitzigen Zeit aufgestanden bin, döse ich nach einer Weile ein.
Um die Mittagszeit kommen wir auf dem Festivalgelände an. Es ist schon einiges los, aber schließlich finden wir eine freie Stelle, die groß genug ist für drei Zelte, und laden unseren Krempel aus. Dann stehen wir da, umringt von Taschen, Schlafsäcken und eingepackten Zelten, und grinsen uns gegenseitig an. Da sind wir also. Das Mixtape, unser erstes Festival.
Was ich bis jetzt davon gesehen habe, gleicht einem großen, chaotischen Zeltlager. Auf der Hauptbühne macht eine Band gerade Soundcheck. Verheißungsvolle Sirenenklänge in unseren Ohren, sodass wir Mühe haben, genauso cool zu wirken wie die vier Schluffis neben uns, die in ausgeleierten Trainingshosen auf Klappstühlen vor einem Uralt-Wohnmobil herumhängen. Wir sagen »Hi«, machen eine Runde Small Talk, und beginnen mit dem Aufstellen der Zelte. Fabienne hatte angeboten, ein Zelt für Linda, sich und mich zu organisieren, was wir dankbar angenommen haben. Jetzt packt sie es aus und Linda und ich bekommen prompt einen Schreikrampf: Zum Vorschein kommt etwas, das so quietschrosa ist, dass einem davon die Augen tränen.
»Das ist ein dunkles Pink«, erklärt Fabienne, was es aber nicht besser macht. Fehlt nur noch ein riesiges Hello-Kitty-Emblem obendrauf! Paul und Jonas fotografieren das Ding mit ihren Handys. Zwar gibt es hier in der Einöde kein Netz, das haben wir gleich als Erstes ausgetestet, aber natürlich werden sie es sofort nach unserer Rückkehr in die Zivilisation posten.
»Eher schlafe ich im Freien als da drin«, verkünde ich.
»Bitte schön«, meint Fabienne. »Du kannst ja zu Paul ins Zelt ziehen. Aber der schnarcht und furzt und garantiert wird er dich begrapschen.«
»Niemand schläft im Zelt des Häuptlings«, erklärt Paul und verschränkt die Arme vor seiner breiten Brust.
Ich versuche es bei Katja und Jonas: »Wollen wir nicht tauschen? Diese Farbe ist doch eher was für Frischverliebte.«
»No way«, schallt es mir synchron entgegen, und schon sitzen sie schnäbelnd wie die Wellensittiche vor ihrem Pop-up-Zelt und machen Selfies.
»Denkt heute Nacht daran, die Liebesblase, in der ihr euch befind