Angst in deinen Augen
1. KAPITEL
Die Hochzeit fand nicht statt. Sie war geplatzt. Schluss, aus, vorbei. Alles kaputt.
Nina Cormier saß vor dem Spiegel im Ankleidezimmer der Kirche und fragte sich, warum sie nicht einmal weinen konnte. Sie wusste, dass tief in ihrem Inneren der Schmerz wütete, überdeckt von einer seltsamen Gefühllosigkeit, aber sie spürte ihn nicht. Noch nicht. Sie konnte nur dasitzen und ihr Spiegelbild aus tränenlosen Augen anstarren - das wunderschöne Bild einer Braut. Wie feiner Nebel lag der hauchdünne Schleier um ihr Gesicht. Bezaubernd das elfenbeinfarbene Satinkleid mit schulterfreiem, mit Saatperlen besticktem Mieder. Zu einem weichen Knoten zusammengefasst die langen schwarzen Haare. Alle, die sie an diesem Morgen im Ankleidezimmer gesehen hatten - ihre Mutter, ihre Schwester Wendy, ihre Stiefmutter Daniella -, hatten gesagt, sie sei eine wunderschöne Braut.
Ja, das wäre sie gewesen - wenn der Bräutigam so nett gewesen wäre, aufzutauchen.
Tatsächlich hatte er nicht einmal den Mut aufgebracht, es ihr persönlich zu sagen. Nach sechs Monaten, in denen sie geplant und geträumt hatte, erhielt sie seine Absage gerade mal zwanzig Minuten vor Beginn der Zeremonie, zu allem Überfluss überbracht von seinem Trauzeugen.
Nina,
ich brauche Zeit, um darüber nachzudenken. Es tut mir leid, es tut mir wirklich leid. Ich werde die Stadt für ein paar Tage verlassen. Ich rufe dich an.
Robert
Sie zwang sich, die Nachricht noch einmal zu lesen.
Ich brauche Zeit ... Ich brauche Zeit ...
Wie viel Zeit braucht ein Mann? fragte sie sich.
Vor einem Jahr war sie mit Dr. Robert Bledsoe zusammengezogen. Nur so können wir herausfinden, ob wir zusammenpassen, hatte er ihr gesagt. Mit einer Heirat ging man eine so umfassende, so auf Dauer angelegte Bindung ein, dass er keinen Fehler begehen wollte. Mit einundvierzig Jahren hatte Robert schon genügend Erfahrung mit katastrophal verlaufenden Beziehungen gemacht. Noch mehr Fehler wollte er unter allen Umständen vermeiden. Wollte sichergehen, dass Nina wirklich die Frau war, auf die er sein Leben lang gewartet hatte.
Sie war sich sicher gewesen, dass Robert der Mann war, auf den sie gewartet hatte. So sicher, dass sie noch am selben Tag, an dem er vorgeschlagen hatte, zusammenzuziehen, direkt nach Hause gefahren war und ihre Koffer gepackt hatte ...
»Nina? Nina, mach die Tür auf!« Ihre Schwester Wendy rüttelte am Türknauf. »Bitte, lass mich rein.«
Nina ließ den Kopf sinken und schlug die Hände vors Gesicht. »Ich will jetzt niemanden sehen.«
»Du brauchst jetzt jemanden um dich.«
»Ich will einfach nur allein sein.«
»Hör zu, die Gäste sind alle gegangen. Die Kirche ist leer. Hier draußen bin nur noch ich.«
»Ich will jetzt mit niemandem reden. Geh einfach nach Hause, ja? Bitte, geh einfach.«
Vor der Tür blieb es lange völlig still. »Wenn ich jetzt wegfahre«, sagte Wendy schließlich, »wie kommst du dann nach Hause? Irgendwer muss dich doch fahren.«
»Dann rufe ich mir eben ein Taxi. Oder bitte Reverend Sullivan, mich nach Hause zu fahren. Ich brauche Zeit zum Nachdenken.«
»Du bist sicher, dass du nicht reden möchtest?«
»Ganz sicher. Ich rufe dich später an, in Ordnung?«
»Wenn du das wirklich willst.« Wendy schwieg einen Moment. Dann setzte sie so giftig, dass es durch die schwere Eichentür zu hören war, hinzu: »Robert ist ein Arschloch, weißt du. Das kann ich dir jetzt auch sagen. Ich habe ihn schon immer für ein Arschloch gehalten.«
Nina antwortete nicht. Sie saß am Ankleidetisch, den Kopf in den Händen, und wollte weinen, aber es kam keine einzige Träne. Sie hörte, wie sich Wendys Schritte entfernten, dann nur noch die Stille der leeren Kirche. Immer noch kamen keine Tränen. Sie konnte jetzt nicht über Robert nachdenken. Stattdessen kreisten ihre Gedanken hartnäckig um die prakt