Arne Claasen und die vergessenen Toten: Der erste Fall
Kapitel 1
Der Mann war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet. In seinem Ledergürtel steckte eine schwarze Gesichtsmaske, und ein Nachtglas mit zehnfacher Vergrößerung hing an einem Lederriemen um seinen Hals. Immer wieder hob er es an die Augen und suchte das Meer westlich der Hallig ab. Ein Nachtsichtgerät lag griffbereit vor ihm auf der Fensterbank. Im Zimmer war es dunkel, und der Mann verschmolz mit der Umgebung.
Seit einer Stunde starrte er bereits durch das geöffnete Giebelfenster in die pechschwarze Nacht, nur das Wetterleuchten am Horizont durchdrang die Finsternis. Das Aufleuchten der Blitze reichte aus, um mit dem Nachtglas die Konturen von Booten auf der Nordsee auszumachen.
Er sah auf die Leuchtziffern seiner Uhr. Kurz vor Mitternacht. Der Fischkutter, nach dem er Ausschau hielt, war seit einer halben Stunde überfällig.
Eine weitere Viertelstunde verging. Er überlegte gerade, ob er die Beobachtung abbrechen sollte, als im Licht eines Blitzes die Silhouette eines Kutters zu sehen war. Wie letztes Mal führte er keine Positionslichter.
»Also doch«, murmelte er.
Er setzte das Nachtsichtgerät auf, schwang sich aus dem Fenster und streckte sich nach rechts, bis er den Blitzableiter greifen konnte. Was vor einem Jahr noch ein Kinderspiel gewesen wäre, verursachte ihm jetzt heftige Schmerzen. Er biss die Zähne zusammen und hangelte sich am Blitzableiter zu Boden. Dass dies bei einem aufziehenden Gewitter Selbstmord gleichkommen konnte, interessierte ihn nicht. Wie früher konzentrierte er sich nur auf das Ziel, und das war herauszufinden, warum der Kutter ohne Licht vor der Hallig lag.
Noch vor einem Jahr war er einer der Topagenten des BND gewesen. Dann hatten er und sein Team eine islamistische Terrorzelle entdeckt, und im kleinen Kreis war beschlossen worden, die Zelle auszuheben. Das Auskundschaften und die Vorbereitungen waren unter strengster Geheimhaltung abgelaufen. Nur er selbst und sein Team sowie sein Chef kannten das Datum, an dem zugeschlagen werden sollte. Selbst dem Einsatzteam wurde der Termin erst Stunden vor dem Zugriff bekanntgegeben. Das Zielobjekt lag in einer verlassenen Bauernkate in Ostfriesland, die nur über eine schmale Schotterstraße zu erreichen war. Punkt zwei Uhr nachts, zu einer Zeit, in der die Menschen am tiefsten schlafen, begann der Einsatz. Eine mit einer Wärmebildkamera ausgerüstete Drohne überwachte das Objekt. Das Einsatzteam bestand aus zwei Gruppen, sie näherten sich über die Wiesen aus zwei unterschiedlichen Richtungen und überwanden mit Hilfe von klappbaren Aluminiumleitern die Entwässerungsgräben. 300 Meter vor dem Zielobjekt schwärmte die erste Gruppe aus und bildete einen Kreis um den Bauernhof. Ihre Aufgabe war es, entwichene Terroristen festzunehmen.
Sobald das Team seine Position erreicht hatte, meldete der Führer der Gruppe es an den Befehlshabenden. Das war für das zweite Team das Zeichen zum Zuschlagen. Die Tür wurde mit einem Rammbock aufgestoßen, und unter seiner Führung drangen die kampferprobten Männer in das Gebäude ein, wobei sie gleichzeitig riefen: »Polizei! Auf den Boden! Hände über den Kopf!«
Im gleichen Moment musste jemand eine Bombe gezündet haben. Das Einzige, was der Befehlshabende noch wahrnahm, war eine Stichflamme.
Als er wieder zu sich kam, lag er in einem Bett. Auf dem Kalender an der Wand sah er, dass seit dem Einsatz zwei Wochen vergangen waren. Später erzählte ihm der Arzt, dass, hätte er keinen Helm und keine Schutzweste getragen, er jetzt tot wäre. So hatten die Splitter »nur« seine Beine und Arme getroffen, außerdem hatte die Druckwelle innere Verletzungen verursacht.
Fast ein Jahr hatte er im Bundeswehrkrankenhaus in Koblenz und danach in verschiedenen Reha-Einrichtungen gelegen. Anschließend hatte ihn sein Arbeitgeber in einem sicheren Haus auf der Hallig Runhold untergebracht. Hier sollte er in aller Abgeschiedenheit seine Gesundheit, Kraft, Flexibilität