Berauschende Opfer
21.01 Uhr
Spät abends kam Esther müde nach Hause zu ihrer Eigentumswohnung am Rande des Niddaparks in Ginnheim mit herrlichem Blick auf den Taunus. Sie war froh, endlich heimzukommen, sich die Klamotten vom Leib zu reißen, ein heißes Bad nehmen und sich danach in die warmen Arme ihres Schatzes schmiegen zu können.
In den letzten Tagen war es frostig geworden. Morgens überzog Raureif die kahlen Parkbäume, abends lag Nebel in den dunklen Straßen.
Sie wollte gerade den Schlüssel ins Schloss stecken, als die Tür von innen geöffnet wurde, eine Blondine an ihr vorbei ging, sich bei Jörg Rock mit einem verschmitzten Lächeln verabschiedete und von dannen zog.
Rock stand in der Tür und hielt die Arme auf, um Esther liebevoll zu begrüßen.
Wer war das? , knurrte sie und war weit davon entfernt, sein Umarmungsangebot anzunehmen.
Ach, das ... hatte ich dir nicht von dem Termin mit der Rundschau erzählt?
Nein!
Oh, wohl vergessen. Das war Evelyn Sanders. Ich habe sie heute auch zum ersten Mal gesehen. Die Rundschau scheint nur noch mit freiberuflichen Mitarbeitern zu arbeiten. Sie hat ein Interview mit mir gemacht.
Esther verzog den Mund. Am liebsten hätte sie was anderes mit dir gemacht, stimmt s?
Ey, Quatsch! Wie bist du denn drauf? Komm mal her.
Er ging auf sie zu, griff ihr um die Hüfte und spitzte die Lippen, um ihr einen dicken Kuss auf den Mund zu geben. Esther entzog sich jedoch seiner Umklammerung, wand sich geschickt aus seinen Händen und schlüpfte in die Wohnung.
Was soll das? Du wirst doch nicht...
...deine Medienhäschen gehen mir tierisch auf die Eierstöcke. Seit dein drittes Buch raus ist, gehen die hier ein und aus. Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee war, dass du hier einziehst.
Rock stand starr da, dachte einen Moment nach und ärgerte sich etwas, weil Esther nicht verstehen wollte, dass er als Autor die verdammte Pflicht hatte, mit den Medien zusammenzuarbeiten. Und dafür, dass es manchmal gut aussehende und junge Journalistinnen waren, die mit ihm Interviews führen wollten, konnte er sicher nichts.
Rock erinnerte sich an die zurückliegende Zeit. Lange bevor er bei Esther eingezogen war, hatten sie beide einen Deal. Er ermittelte für sie, quasi undercover, in Fällen, in denen die Mordkommission nicht weiter kam oder eine verdeckte Ermittlung angebracht erschien. Sie entlohnte ihn. Mit Sex. Mittlerweile waren sie längst ein Paar geworden. Er, der blonde flippige freischaffende Autor mit den blauen Augen. Sie, die weibliche Hauptkommissarin mit den dunklen langen Haaren, die fast immer Stress hatte. Rock wurde inzwischen als Bestsellerautor gefeiert, pikanterweise waren seine Bücher nach den Einsätzen für Esther entstanden. Sie waren der Quell seiner Ideen. Er berichtete haarscharf vom Vorgehen der Polizei, von den Ermittlungen, den Tätern und Opfern. Sozusagen Reality-TV in Buchform, was eine reißende Nachfrage fand. Er stand im Rampenlicht, doch Esther beobachtete ihn und seinen Erfolg mit gemischten Gefühlen. Es schien ihr nicht recht zu sein, dass der ehemals bettelarme freie Journalist, der seine feste Anstellung verloren hatte, nun zum gefeierten Autor und Medienstar avanciert war. Waren das Anzeichen eines ernsthaften Konflikts?, fragte sich Rock. Oder noch schlimmer: Konnte das gut gehen mit den beiden in einer gemeinsamen Wohnung, einem gemeinsamen Bett und einem gemeinsamen Leben?