Dünengeister
List auf Sylt, 1914
Gemordet
Sorgfältig zog Carola die grüne Tinte in den Füllfederhalter, den der Großvater ihr zur Konfirmation geschenkt hatte, damals in Pommern, auf Gut Lubowitz. Sie war so stolz gewesen, als sie ihren Namen in goldener Schrift eingraviert sah: Carola Henriette Borgwart. »Möge er dir Glück bringen in deinem zukünftigen Leben, mein Kind«, hatte der Großvater gesagt, und genau das war auch eingetreten, dachte Carola. Glück, Anerkennung und Erfolg hatte er ihr gebracht, denn bald würde ihr vierter Lyrikband herauskommen. In Der Sturm, der Zeitschrift für Kunst und Kultur von Herwarth Walden, waren bereits zwei ihrer Gedichte abgedruckt worden, und eines davon hatte einen Preis erhalten. Im nächsten Heft sollte ein langer Artikel über sie erscheinen. Und nun hatte man sie gebeten, ihr Leben in Stichpunkten aufzuschreiben, als Vorbereitung sozusagen für den biografischen Abriss.
Sie rückte ihren Schreibblock zurecht. Geboren: 16. Juli 1890 auf Gut Lubowitz. Vater: Anton Jacob Borgwart, Gutsverwalter, gestorben 1899, da war sie gerade mal neun gewesen. Übersiedelung nach Sylt, als sie vierzehn war. Auf einer vornehmen Hochzeitsfeier im Hotel Adlon in Berlin hatte ihre Mutter den Manufakturbesitzer Heinrich Melander aus List auf Sylt kennengelernt. Acht Wochen später waren sie verlobt, sechs Monate danach verheiratet, womit natürlich auch ein Umzug nach Sylt verbunden war.
Carola fiel es schwer, sich von ihren Großeltern und dem Gut zu trennen, zumal sie zu ihrem Stiefvater keine sehr enge Beziehung aufbauen konnte. Er war ihr gegenüber freundlich, aber auch steif und geschäftsmäßig; und obwohl er zwei Söhne besaß, war ihm die Welt der Kinder verschlossen. Carl und Wilhelm verehrten ihren Vater zwar, doch das Verhältnis blieb distanziert. Carola war insofern ganz zufrieden, als sie von ihrem Stiefvater nicht allzu viel mitbekam. Heinrich hatte einige Jahre zuvor, zusammen mit einem Freund, ein inzwischen äußerst erfolgreiches Unternehmen gegründet, in dem Fahrzeuge für kleine Kinder hergestellt wurden. Dreiräder, Roller, Draisinen, Fahrräder, Tretautos. Sogar bis nach Übersee reichten die Geschäftsbeziehungen der Melander-Werke. Er hatte also in seiner Manufaktur, die sich auf dem Gelände des Lister Hafens befand, genug zu tun, und für die Kinder blieb ihm wenig Zeit.
Wilhelm und Carl waren ein paar Jahre älter als Carola, genauer gesagt, fünf und sieben Jahre. »Und ich Schaf habe mich sofort in ihn verliebt«, dachte Carola belustigt, während sie den Füller beiseitelegte und verträumt aus dem Fenster auf die karge Dünenlandschaft blickte.
Wilhelm! Er war ihre große Liebe gewesen, von Anfang an.
Er war so anders als sein älterer Bruder. Immer zu Streichen aufgelegt, spontan, temperamentvoll, und sein herzhaftes Lachen drang durch alle Räume. Auf jeden Fall war er der Liebling der Köchin, die ihm allerlei Leckereien zwischen den Mahlzeiten zusteckte, die er dann mit Carola in seinem Versteck hinter den Eiben teilte. Sein Bruder Carl war ein Einzelgänger, und Carola schien es, als sei er kalt und berechnend. Wenn er sie durch seine dicke, randlose Brille betrachtete, als habe er ganz vergessen, dass sie ein Mensch war und kein Insekt unter einem Mikroskop, lief ihr ein eisiger Schauer über den Rücken. Wilhelm war menschlicher und berechenbarer. Wenn er sie mit seinen großen, dunklen Augen unter dem schwarzen Haarschopf ansah, sah sie den Schalk darin, und ihr Herz flog ihm zu.
Wieder unterbrach sich Carola in ihrer Niederschrift. Es war befreiend, ihr Leben Revue passieren zu lassen, aber ihr war klar, dass ihre Ausführungen viel zu ausführlich waren, ein paar Stichworte würden genügen. Etwa, dass sie seit zwei Jahren mit Wilhelm verlobt war - seit er seine Studienzeit in Tübingen beendet hatte - und ihn bald heiraten würde. Das interessierte die Leser. Das andere vielleicht auch, aber allzu privat wollte sie nun