Das Erbe
Klara
Sommer 1938
Es war ein wunderschöner Sommertag. Ein bunter Tag, wie Klara dachte. Weiß-blau spannte sich der Himmel über München. Rote Hakenkreuzfahnen wehten am Stadtarchiv. Durch das tiefgrüne Laub der Kastanien und Linden davor strich der Wind. Beschwingt bog Klara von der Winzerer- in die Elisabethstraße ein und geriet so in Sichtweite ihrer Mutter. Vielleicht stand sie oben am Fenster und hielt Ausschau nach ihr. Unwillkürlich blieb Klara vor dem Schaufenster des Schuhladens Meyer stehen und prüfte ihre Erscheinung. Mit geübtem Griff zog sie den Lederknoten am schwarzen Halstuch nach oben, streifte einen Fussel von der weißen Bluse und strich den marineblauen Rock ihrer BDM-Uniform glatt. Keine Strähne hatte sich aus dem Zopf gestohlen. Sie sah tadellos aus und ging weiter, so wie ihre Mutter es erwartete. Ordentlich voreinander gesetzte Schritte und nicht breitbeinig nebeneinander, wie ein Bauernmädchen vom Land.
Seit Klara dienstags den Gymnastikunterricht und freitags den Volkstanzkurs des Bunds Deutscher Mädel besuchte, spürte sie, wie ihr Körper sich veränderte. Er wurde beweglicher, geschmeidiger, und sie ging aufrechter. Hoch erhobenen Haupts. Wie sich das für ein deutsches Mädchen geziemte. Sie nahm jede Sehne wahr und jeden Muskel, und es war ein gutes Gefühl, all das zu spüren. Noch besser fühlte es sich an, dass ihr bereits Brüste sprossen. Im November wurde sie vierzehn. Es war also höchste Zeit dafür. Das behauptete jedenfalls ihre Schulfreundin Therese, die es bei vier älteren Schwestern schließlich wissen musste. Nichts sehnte Klara mehr herbei, als vom Mädchen zum Fräulein zu werden. Und irgendwann zu einer eleganten Dame, wie ihre Mutter es war. Deshalb war sie glücklich, seit sie vor zwei Wochen beim samstäglichen Bad die beiden kleinen Wölbungen bemerkt hatte. Im Spiegel hatte sie sich zugelächelt. »Guten Tag, Fräulein Hacker.« Und am Abend hatte sie ihre Mutter gefragt, ob sie zum Kaufhaus Hirschvogl fahren könnten, um einen Büstenhalter zu kaufen. »Dafür ist es noch ein wenig früh«, hatte Mama mit einem Lächeln erklärt. »Und außerdem sollten wir nicht bei Juden kaufen.« Der Büstenhalter musste also noch ein wenig warten.
Klara steuerte auf das Haus mit dem Schwanenrelief im Giebel zu. Vor vier Jahren waren ihre Eltern mit ihr aus drei Zimmern in Milbertshofen in eine elegante Fünfzimmerwohnung im Schwanenhaus gezogen. Ganz oben in der vierten Etage. Die konnten sie sich nur leisten, weil Herr Roth, der Hauseigentümer, Papa mit der Miete entgegengekommen war. Mama meinte, die Größe und Lage wären ihrem Status angemessen, und das Entgegenkommen bei der Miete sei ein wohlüberlegtes Kalkül von Roth. In diesen Zeiten wäre es für einen jüdischen Unternehmer und Hausbesitzer nur von Vorteil, jemanden in der Justiz zu haben, der einem einen Gefallen schuldete.
Mama war eine anspruchsvolle Frau, wie ihr Vater einmal angemerkt hatte, und schwer zufriedenzustellen. Derzeit hatte sie sich eine Köchin in den Kopf gesetzt. Sie habe zu wenig Personal. Neben einem Dienstmädchen gehöre eine Köchin in den Haushalt eines Oberstaatsanwalts. Doch Papas Beförderung stand erst bevor, Mama musste sich gedulden. Mit dem Gehalt eines Staatsanwalts wäre kein großer Staat zu machen. Das sagte sie häufig, und Klara wusste, dass ihr Vater sich darüber ärgerte. Er gab sein Bestes, aber Mutter war das selten genug.
Der Duft von Lavendel, Jasmin und Bergamotte schlug Klara entgegen, als sie die Straße überquerte und die Parfümerie erreichte, die sich im Erdgeschoss des Schwanenhauses befand. Auf dem schwarz grundierten Glasschild über dem Schaufenster stand in schwungvollen goldenen Buchstaben Elisabeth-Parfümerie. Der Text darunter war abgeklebt. Die Zeile Seit 1903 - Inh. Jakob Roth verbarg sich darunter. Monatelang hatte jemand immer wieder die Fenster der Auslagen mit dem Wort JUDE verziert und dem Aufruf, n