Der Engel der anderen Geschichte
ERSTES BILD
1
Der Mann, der auf mein Klopfen hin die Tür öffnete, begrüßte mich mit einem gewinnenden Lächeln. "Schön, daß Sie hierhergefunden haben!", rief er und streckte mir beide Hände entgegen. Er war von eher kleinem Wuchs, aber der sorgfältig geschnittene Schnurrbart und die dunklen Augen gaben ihm etwas Direktes, das in einem seltsamen Kontrast stand zu dieser leisen, etwas hohen Stimme, die mir am Tag zuvor den Weg hierher beschrieben hatte.
Er bat mich herein. Was hatte ich erwartet? Bestimmt nicht solch eine Sammlung in der Halle eines derart abgelegenen Hauses. Ich blieb vor einem dieser Bilder stehn.
"Ein Kirchner", meinte Herr Neugebuhr. "Aus der Sammlung Mackenrodt. Das Bild war nie im Handel. Und es erschien auch nie in einem Katalog."
Ich sah das helle Waldstück an.
"Seltsam, wie? Daß bei diesen Braun- und Rot-Flecken trotzdem der Eindruck eines sommerlichen Waldes entsteht." Hector Neugebuhr lachte leise. "Das ist eben die Kunst. Oder vielmehr - es ist keine Kunst. Es ist die Komplementärfarbe. Rot, richtig gesetzt, hebt Grün."
"Also doch wieder Kunst."
"Es ist der Expressionismus. Kirchner eben. Sie haben ein gutes Auge."
Ich sah auf die große gebundene Fliege, die Neugebuhr trug. Sie war grün, mit roten Punkten. Und erst jetzt erkannte ich die feinen Streifen im Tuch seines grauen Anzugs. Oder war er grün?
"Übrigens gilt das für eine Reihe von Werken dieser Jahre, nicht nur der Expressionisten. Sie blieben im Krieg. Viele ihrer Werke sind über Sammlungen in der ganzen Welt verstreut. Keiner weiß von ihnen."
"Und Sie - "
Neugebuhr sah mich an mit seinem forschenden Auge. "Das gilt nicht nur für die Expressionisten. Es gilt, zum Beispiel, auch für Klee. Wenn auch aus dem gegenteiligen Grund. Während diese Maler im Krieg blieben und ihre Werke zerstreut wurden, war Klee gerade in jenen Jahren schon sehr erfolgreich." Hector Neugebuhr fuhr mit den dunklen Augen über die Wände seiner Halle, die mit Schätzen und Raritäten übersät war. "Und er hat viel gemalt - " Er riß sich los von seiner Betrachtung. "Kommen Sie!"
Mit einem sicheren Griff nahm er die Brille, die neben einem Telefon auf einem kleinen Tisch lag und zeigte auf die offene Tür zum Salon. Auch hier gab es Bilder, Skulpturen. Schweres Mobiliar. Tiefe Lederfauteuilles. Ein wuchtiger Kamin. Neugebuhr trat an den Tisch am Fenster, auf dem nichts lag als ein kleines Bild ohne Rahmen. "Was nun Ihren Klee betrifft - ", er setzte seine Brille auf, "so ist er leider eine Fälschung."
Ich sah auf das kaum handgroße Blatt mit diesen dropsfarbenen Streifen und der zerbrechlich wirkenden Figur. Es war eine Fälschung.
Als ich nur wenig später, auf dem Rücksitz die kleinen Box mit einem falschen Klee, in der Clementistraße vorfuhr, war die Polizei schon da.
Der Mann, der am Tor unten stand, gehörte zum Team des 12. Kommissariats.
"Was ist passiert?"
Der Beamte zeigte mit dem Kinn zu dem kleinen Reihenhaus, aus dessen Tür eben, begleitet von seinem Arzt und einer Assistentin, Tromsdorf trat.
"Was wollen Sie denn hier?", rief er, indem er die roten Stufen herab schritt, die durch den liebevoll gepflegten Steingarten zur Straße führten.
"Meinen Freund besuchen."
"Ihren Freund?" Tromsdorf sah mich an. "Zu spät."
Das Gefühl plötzlicher Bodenlosigkeit. "Kann ich ihn sehen?"
"Können Sie nicht." Ohne den Blick von mir zu nehmen, machte er mit seiner Rechten ein Zeichen über seinem Kopf und zeigte auf den freien Platz vor seinem grün-silbernen Opel. Der Leichenwagen glitt wie ein Schatten her. Zwei Männer hoben den Zinksarg heraus und eilten an uns vorbei die Stufen empor. Die junge Beamtin, die noch rasch etwas in ihr Funkgerät sprach, rief: "Im Erdgeschoß, links - ", und sprang ihnen, als handle es sich um zwei Burschen aus dem Einrichtungshaus, nach.
"Was führte Sie denn - zu Ihrem Freun