Der Flammenwall
Gegenwart
21. Dezember, 22:18 WET
Coimbra, Portugal
Der Hexensabbat wartete.
Charlotte Carson eilte durch die dunkle Universitätsbibliothek. Das gedämpfte Geräusch ihrer Schritte auf dem Marmorboden wurde von der Ziegelsteindecke des zweistöckigen Saals reflektiert. Einige der Bücher in den mit Schnitzereien verzierten Regalen ringsumher stammten aus dem zwölften Jahrhundert. Der große Raum wurde nur von Wandleuchtern erhellt, und sie staunte über die schattenhaften Leitern und die kunstvoll vergoldeten Schnitzereien.
Erbaut zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts, war die Biblioteca Joanina ein wunderbar erhaltenes Schmuckstück des Barocks, der eigentliche Mittelpunkt der Universität von Coimbra. Und wie jede Schatzkammer war sie auch ein wahrer Tresor, mit sechzig Zentimeter dicken Wänden und Türen aus massivem Teakholz. Aufgrund der zweckmäßigen Bauweise herrschte im Innern unabhängig von der Jahreszeit eine gleichmäßige Temperatur von achtzehn Grad bei gleichbleibender Luftfeuchtigkeit.
Beste Bedingungen für den Erhalt alter Bücher ...
Diese Bemühungen beschränkten sich jedoch nicht allein auf die Architektur der Bibliothek.
Charlotte duckte sich, als eine Fledermaus an ihrem Kopf vorbei zur oberen Galerie flog. Vom Ultraschallruf, den sie nicht hörte, aber spürte, sträubten sich ihr die Nackenhaare. Seit Jahrhunderten lebte in der Bibliothek eine Kolonie von Fledermäusen. Sie waren treue Verbündete beim Kampf um den Erhalt der hier gelagerten Schätze. Nacht für Nacht dezimierten sie die Insekten, die sich ansonsten an alten Ledereinbänden und vergilbtem Pergament gelabt hätten.
Dass in dieser Schatzkammer eifrige Jäger lebten, machte bestimmte Vorkehrungen erforderlich. Sie fuhr mit dem Finger über eine der Lederdecken, mit denen die Tische bedeckt waren. Das Personal legte sie allabendlich nach dem Schließen aus, um die Holzoberflächen vor den Hinterlassenschaften der Fledermäuse zu schützen.
Als sie zu den vergoldeten Flügelfenstern in den Backsteingewölben hochschaute, verspürte sie eine abergläubische Furcht - und eine gewisse Belustigung.
Was ist eine Hexenversammlung ohne Fledermäuse?
Diese Nacht hatte man speziell ausgewählt. Das eine Woche währende wissenschaftliche Symposium hatte heute geendet. Morgen würden die Teilnehmer heimkehren und in alle vier Himmelsrichtungen reisen, um mit Freunden und Familie die Ferien zu verleben. Heute Nacht aber würden Freudenfeuer die Stadt erhellen, untermalt von zahlreichen Musikdarbietungen, alles, um die Wintersonnenwende zu feiern, die längste Nacht des Jahres.
Sie sah auf die Uhr, denn sie war spät dran. Sie trug noch immer die halbformelle Kleidung von der Urlaubsparty in der Botschaft: einen weiten schwarzen Rock, der an ihren Knöcheln streifte, und eine kurze Jacke über blauer Bluse. Ihr Haar lag eng am Schädel an. Es hatte sich vorzeitig silbern gefärbt und war nach der Chemo vor neun Monaten kurz und spärlich geblieben. Auf Färbemittel und Extensions hatte sie verzichtet. Nachdem sie die Zumutungen und Demütigungen der Krebserkrankung überlebt hatte, erschien ihr Eitelkeit als alberne Frivolität. Sie hatte keine Geduld mehr dafür.
Doch an Freizeit mangelte es ihr generell.
Stirnrunzelnd sah sie auf die Uhr.
Nur noch vier Minuten.
Sie stellte sich die Sonne auf der anderen Seite der Erde vor, wie sie sich auf den südlichen Wendekreis zubewegte. Wenn sie ihn erreichte, wäre dies der Moment der Sonnenwende, und der Winter würde sich dem Sommer zuwenden, die Dunkelheit der Helligkeit weichen.
Der perfekte Moment für diese Demonstration.
Den Beweis für die Richtigkeit des Konzepts.
»Fiat lux«, flüsterte sie.
Es werde Licht.
Vor ihr lag ein beleuchteter Durchgang, hinter dem eine Wendeltreppe in die unteren Regio