Der neunte Arm des Oktopus
Donnerstag, 24. September 2020
Wahlkampfzentrale der Demokratischen Partei, New York City, USA
Das Jenkins-&-Jenkins-Bürohaus lag in Brooklyn, mit Blick auf die Upper Bay und gerade noch so dicht am Brooklyn-Battery-Tunnel, dass der Stau rund um die Einfahrt bis zur Tiefgarage reichte. Die Senatorin war erst seit ein paar Wochen in der Stadt, aber sie hasste den New Yorker Verkehr bereits inständig.
Sie hasste die Extra-Viertelstunde, die ihr Fahrer allmorgendlich einplante, zusätzlich zum üblichen Puffer - »Sicher ist sicher, Frau Senatorin.« Und sie hasste das schlechte Mobilfunknetz im Tunnel, ein Balken maximal, wie in einem Entwicklungsland. Sie fragte sich, wie andere Länder das eigentlich hinkriegten.
Die Partei hatte für ihre Wahlkampfzentrale bei Jenkins & Jenkins den achtzehnten und neunzehnten Stock gemietet, rund sechshundert Menschen arbeiteten dort. Ende November, nach der Wahl, würde sich die komplette Zentrale wieder auflösen - und sie, Senatorin Kamala Harris, Kandidatin für das Amt der Vizepräsidentin, würde ins Weiße Haus nach Washington gehen. Oder eben zurück nach Kalifornien, falls die Wahl doch noch verloren gehen sollte. So oder so, dachte sie, als sie die Lobby im Jenkins-&-Jenkins-Haus betrat, in New York werde ich keinen Tag länger bleiben.
Der Boden der Lobby sollte so aussehen, als bestünde er aus italienischem Marmor, er stammte aber in Wahrheit aus einem Steinbruch in Utica, keine vierhundert Kilometer nördlich von New York.
So ist es auch im Wahlkampf - die schöne Kunst des Scheins, dachte sie.
Von der Tür der Tiefgarage bis zu den Fahrstühlen auf der anderen Seite der Lobby waren es nur rund fünfzig Schritte; hier warteten stets die Reporter, die ihr Fragen zuriefen, hier warteten junge Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aus ihrem Team, die ein schnelles Selfie mit der Kandidatin wollten. Fünf Selfies plus Smalltalk, das bedeutete fast fünf Minuten weitere Verspätung. Aber auch fünf weitere Menschen, die sich noch ein wenig mehr für sie ins Zeug legen würden.
Sie setzte ihr Wahlkampflächeln auf.
An diesem Tag fing Chris Murphy sie ab, ihr Assistent. Er war Ende zwanzig, einen Kopf kleiner als die Senatorin und stammte aus einer irisch-italienischen Familie in Utica. Seiner Mutter gehörte dort der Steinbruch, er kannte sich aus. »Guten Morgen, Senatorin«, sagte Murphy und reichte ihr ein Tablet: »Ihr Tagesplan, bitte. Wir sind schon etwas spät dran.«
»Guten Morgen, Chris. Was haben wir als Erstes?«
»Ihr Chinese ist da«, sagte Chris. »Sie frühstücken mit ihm auf der Dachterrasse. Wir fahren direkt durch zum dreißigsten Stock.«
Das klang nach einem guten Plan. Erstens würde die Senatorin nun endlich den geheimnisvollen Menschen kennenlernen, der ihr vom russischen und vom chinesischen Staatschef empfohlen worden war - damals in Peking auf der Konferenz, und ohne ihr zu sagen, worum es genau ging. Zweitens würde sie ihn nicht im Büro in der Zentrale treffen, sondern auf der abgeschirmten Dachterrasse. So würde auch niemand mitbekommen, dass sie mit einem Chinesen redete. Zwischen den USA und China herrschten Misstrauen und Feindseligkeit - wer Sympathien beim Wähler wollte, durfte sich jetzt nicht händeschüttelnd mit Vertretern Chinas zeigen. Die Republikaner würden sofort neue Wahlkampfspots drehen: Senatorin verrät Amerika.
Und drittens war die Dachterrasse eine gute Idee, weil die Senatorin nun endlich ihren Kaffee bekam. Chris, der Assistent, hatte ihr schon am ersten Tag den gewohnten Coffee to go verboten. »Ein Foto von Ihnen mit Pappbecher in der Hand, schon haben wir die Umweltschützer am Hals.«
Die beiden standen nun im Aufzug, Chris nahm einen Schlüssel aus der Tasche und stellte den Fahrstuhl auf »Vorzugsfahrt«. Das ist das Beste am Leben als wichtige Person: k