Die Rabentochter
Zwei
Ich lasse die Spinne mit ihrem Nachwuchs allein, und nach einem Blick auf meine Armbanduhr - ein billiges Plastikteil, das meine Tante Charlotte im Dollar Store gekauft hat, nachdem die letzte, die sie mir geschenkt hatte, gestohlen worden war - gehe ich die zwei Treppen nach unten in den Gemeinschaftsraum. Auf einem der Kabelkanäle läuft heute Nachmittag der erste Star-Trek-Kinofilm, und ich habe meinem Freund Scotty versprochen, dafür zu sorgen, dass niemand auf ein anderes Programm umschaltet. Meine Schritte hallen im leeren Treppenhaus wider. Ich trage Tennisschuhe - mit Klettverschluss, etwas anderes ist uns nicht gestattet. Die Keramik-Bodenfliesen sind gesprungen oder fehlen ganz, der Putz an den Wänden und der Decke bröselt und blättert ab. Mein Zimmer ist in einem der ältesten Gebäude, das aus der Zeit der Eröffnung der Klinik im Jahr 1895 stammt, als es noch die »Irrenanstalt Upper Peninsula« war. »Regionales Psychiatrisches Zentrum Newberry«, wie es sich heute nennt, klingt definitiv besser, aber es ist trotzdem, was es ist: eines von zwei großen psychiatrischen Krankenhäusern für Erwachsene im Staat Michigan. Dieses hier liegt auf der Upper und das andere auf der Lower Peninsula. Einrichtungen, in denen psychisch Kranke Heilung suchen, und in denen die unheilbar Geisteskranken den Rest ihrer Tage verbringen. Ich finde mich irgendwo dazwischen.
Ich trete aus dem Treppenhaus und laufe gegen eine Wand aus Lärm. Im Flur wimmelt es von Menschen. Patienten, Krankenschwestern, Patientinnen mit Schwestern, die im Gleichschritt neben ihnen her marschieren - denn nach den Mahlzeiten darf man Bulimikerinnen nicht allein lassen. Pfleger, Reinigungskräfte, ein Arzt im weißen Kittel. Ich schiebe mich dicht an der Wand entlang, den Kopf gesenkt. Ich spreche niemanden an. Niemand spricht mich an. Meine Therapeuten sagen immer, dass ich meine Zimmergenossinnen und die anderen in meiner Therapiegruppe besser kennenlernen sollte. Aber was für einen Sinn hat es, sich mit jemandem anzufreunden, der ohnehin irgendwann weg ist? Ich bahne mir meinen Weg durch den verglasten Durchgang zwischen den Schlafsälen und dem Verwaltungsgebäude, der sich an sonnigen Tagen höllisch aufheizt - unzerbrechliches Plexiglas, wie das Personal jedem Neuankömmling sogleich erklärt -, und öffne die Tür zum Gemeinschaftsraum.
Der Gemeinschaftsraum ist genauso trostlos, wie man es von einer hundert Jahre alten psychiatrischen Anstalt erwarten würde: schmutzfleckige cremefarbene Wände; abgetretene grüne Asbest-Bodenfliesen; die Fenster mit massiven Metallstreben unterteilt, damit niemand rausspringen kann; Kunstledersessel und -sofas, mit Klebeband geflickt und am Boden festgeschraubt. Auch hier ist es laut - der Ton des Fernsehers ist viel zu weit aufgedreht, um das Stimmengewirr von Besuchern und Patienten zu übertönen, die wiederum viel zu laut reden, um den Fernseher zu übertönen. Und der Geruch - ein Mix aus abgestandenen Kochdüften und Desinfektionsmittel, von dem meine Tante Charlotte sagt, dass er sie an ein Altersheim erinnert, nur überlagert von Zigarettengestank.
Hier im Krankenhaus rauchen so gut wie alle. Zigaretten sind gratis - ob das ein raffinierter Trick der Tabakkonzerne ist, um uns abhängig zu machen und lebenslang an sie zu binden, oder ob es nur ein weiteres Beruhigungsmittel im reichhaltigen Arsenal der Klinik ist, vermag ich nicht zu sagen. Nur Feuerzeuge und Streichhölzer sind uns verboten, genau wie Schnürsenkel, Kordeln, Einkaufstüten aus Plastik, Mülltüten und Dutzende andere gewöhnliche, aber potenziell tödliche Gegenstände, die Menschen außerhalb von psychiatrischen Anstalten tagtäglich benutzen.
Dennoch hat es in meiner Zeit hier zwei vollendete Selbstmorde gegeben. Ein Mädchen hat einen Pullover aufgedröselt und das Garn zu einem Strick geflochten, den sie sich um den Hals legte. Dann warf sie das andere Ende über ein Rohr unter der Decke des Badezim