Die Reise des Engels
4. Kapitel
Der fremde Tote
Ein großer kräftiger Mann, der mit dem Rücken zu Gontard gestanden hatte, fuhr ihn barsch an: "Keine Gaffer hier! Die können wir gar nicht gebrauchen. Das gibt nur Ärger."
Der Mann hielt inne und rief erstaunt aus: "Chef? Sie hier? Das gibt es doch nicht. Sie sind doch schon lange pensioniert?"
"Manfred Berberich?" Gontards Stimme klang zunächst zögerlich, doch dann rief er: "Natürlich. Das ist Manfred Berberich, mein Lehrling."
"Ja, Ihr Lehrling von früher. Das ist fünfundzwanzig Jahre her. Oder länger. Ich bin ja auch kein Frischling mehr. Und Chef der Kripo Ludwigshafen. Ich war gerade in Kaiserslautern. Zufall. Wurde vorhin gerufen. War gleich zur Stelle."
Er redete weiter im Telegrammstil. Gontard kam gar nicht dazu, seine Anwesenheit zu erklären.
"Mordfall auf dem Friedhof. Komisch eigentlich. Die sind doch schon alle tot." Er unterbrach sich verlegen. "Entschuldigung, Chef. Kein besonders guter Witz."
"Sie sind jetzt der Chef in Ludwigshafen? Das ist völlig an mir vorbeigegangen. Und Schwerdtfeger? Was ist mit dem?"
"Udo Schwerdtfeger? Der wurde weggelobt, wie es so heißt. Probleme mit den Kollegen. Der ist überall angeeckt und in alle Fettnäpfchen getreten. Macht jetzt Karriere im Osten. Neue Bundesländer, meine ich. Meck' Pomm. Kripo Schwerin."
Ach ja, dachte Gontard. Udo Schwerdtfeger hatte nicht "hier" gerufen, als die gute Fee das Talent für Menschenführung ausgeteilt hatte. Aber er war kein schlechter Kriminologe gewesen.
"Aber was ist hier genau passiert?", fragte er.
Er platzte vor Neugier.
"Ein Mann. Erstochen an der Engelsstatue. Keine Papiere. Wir müssen die Leute vom Dorf fragen, wer das sein kann. Hier kennt doch jeder jeden."
"Das glaube ich nicht. Schwanweiler ist ein großes Dorf. Es ist nicht mehr wie früher. Es gibt viele Zugereiste."
Manfred Berberich führte den Chef am Kiesweg entlang hoch zur großen Familiengrabstätte mit dem steinernen Engel. Auf dem Weg dorthin schilderte Gontard kurz, weshalb er hier und jetzt in Schwanweiler war.
Der Engel breitete über dem Schauspiel die Arme aus, das nicht gruseliger hätte sein können. Wie eine arrangierte Theaterszene. Wie ein Tableau, dachte Gontard.
Ein Mann lag mit dem Gesicht nach unten über dem mit einer Marmorplatte bedeckten Grab, in der ausgestreckten Hand eine Lilie.
"Eine Plastikblume", sagte Berberich. Es klang wie ein Vorwurf.
Der Mann war von hinten erstochen worden. Sein Mantel aus dünnem Tuch wies einen tiefen Riss auf. Der Tote lag in einer Blutlache.
"Weit und breit keine Tatwaffe. Auch keine Fußspuren, keine Reifenspuren."
"Aber es hat doch stark geregnet? Keine Spuren im Matsch?", fragte Gontard.
"Alles ist mit Kies bedeckt, und die Parkplätze sind befestigt. Knochensteine. Und die Zufahrt zum Friedhof ist betoniert. Schade."
"Ja, schade", gab Gontard dem Kripochef Recht. Aber der ewige Romantiker Friedrich Gontard dachte auch, dass es schade um den schönen alten Grasplatz unter den Kastanienbäumen war, wie er ihn noch vor der Modernisierung gekannt hatte.
Auch den Jugendstilengel hatten sie einfach kaputtschlagen wollen. Aber ein engagierter Heimatforscher aus Schwanweiler hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, um das wertvolle Kunstwerk zu erhalten.
Familie Adam und Ernestine Bosch stand auf der Grabplatte in schon leicht verwitterten, in Gold aufgetragenen Lettern.
"Der Sohn, Valentin Bosch, hat den Grabstein geschaffen. Und den Engel. Er war Bildhauer und Steinmetz. Ein vielversprechender junger Mann. Er hat die Münchner Kunstakademie besucht. Mit noch nicht einmal zweiundzwanzig Jahren ist er im Ersten Weltkrieg gefallen."
Berberich schaute seinen ehemaligen Chef fragend an, der aber fuhr fort: "Meine Frau Anna hat mir das alles erzählt. Sie ist ja hier geboren und hat als Kind einige Jahre h