Die Schneckeninsel
Prolog
Er würde sich nur mit seinem Tod zufriedengeben.
Aber wo hatte er dieses Gesicht schon einmal gesehen? Ein breiter Schädel mit hohen Wangenknochen, niedriger Stirn und wild wuchernden Augenbrauen. Die Wangen blau schimmernd. Um die Augen und die Nase flechtenartig rote Äderchen. Seine Lippen wie Lefzen eines Bluthundes.
Er hatte bereits seit dem Betreten des Museums das Gefühl, beobachtet zu werden. Er tat es als Hirngespinst ab und konzentrierte sich auf die Sammlung, die er seit seiner Jugendzeit nicht mehr gesehen hatte. Unglaublich, diese Massen an Knochen von gigantischen Walfischen, von mächtigen Dinosauriern mit Wirbeln so dick wie Bäume bis zu den kleinsten Lebewesen mit winzigen zierlichen Skeletten.
Bei einem Schaukasten mit eingelegten Herzen und Hirnen starrten ihn unvermittelt die stechenden Augen aus einer verwüsteten Gesichtslandschaft an. Im ersten Augenblick dachte er, die Gestalt gehöre zur Ausstellung: ein Frühmensch, ein Neandertaler vielleicht. Aber sie zeigte plötzlich mit einem riesigen Buschmesser auf ihn und öffnete den Mund, als ob er einen Schrei ausstoßen wollte. Aber er blieb stumm. Er blickte sich um, ob jemand hinter ihm gemeint sein könnte, da war niemand. Im selben Moment stürmte der Mann los - und jetzt war es eindeutig: Der Mann meinte ihn. Er drehte sich auf dem Absatz und stürmte los, hoffte auf Personal zu stoßen, aber der riesige Saal leer. Er kurvte, so schnell es das rutschige Parkett zuließ, um einige Schaukästen voller Tierskelette, schlug einige Haken, sprang über die Absperrungen zwischen den Schaukästen und erreichte die geschwungene Treppe an der Längsseite des Saales. Er nahm zwei Tritte aufeinmal und gelangte schwer atmend zu einem Balkon, von dem man einen Überblick über die ganze Sammlung im Saal hatte. Er sah seinen Verfolger, wie er direkt unter ihm in dasselbe Treppenhaus einbog, durch das er eben hochgekommen war. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er ein blaues Arbeitsgewand trug, genau wie sein Vater. Er raste weiter, nahm die Treppe ins erste Stockwerk. Auch dieser Saal war leer. Keine Besucher - und weit und breit keine Aufsicht.
Er schwitzte, und sein Herz schlug einen beängstigend rasenden Rhythmus. Waren hier nicht eben noch unzählige Besucher gewesen? Wohin waren die alle verschwunden?
Auf einer glitschigen Stelle des Parkettbodens rutschte er aus und fiel hin. Seine Hände waren voll zähen Schleims. Angewidert versuchte er sie an seinen Hosen abzuwischen und bemerkte, dass der ganze Boden mit diesem Schleim bedeckt war. Der Ekel packte ihn. Da kam der Mann mit einem gewaltigen Sprung um die Ecke, das Buschmesser hielt er hoch in die Luft. Er warf sich blitzschnell um die Ecke, das Messer kam mit einem üblen Zischen herangeflogen und verfehlte ihn nur um Haaresbreite. Es fraß sich mit einem knirschenden Geräusch tief ins Holz. Er griff nach dem Messer und zog mit aller Kraft, aber er rutschte auf dem glitschigen Boden aus. Er hörte, wie auch sein Verfolger ausrutschte und hart auf den Boden fiel. Das verschaffte ihm erneut einen kleinen Vorsprung. Er kroch durch die Halle, überquerte einige Absperrungen und befand sich kurz darauf im Haupttreppenhaus. Dort versteckte er sich schwer atmend hinter einem frei stehenden Korpus und lauschte nach seinem Angreifer. Der Schweiß lief ihm in Strömen übers Gesicht. Er zog sich die Jacke aus. Auf einen Schlag roch es so stark nach Lavendel, als hätte ihn jemand mit einer Sprühdose eingenebelt. Er griff in seine Hosentasche. Sie war voller Lavendelblüten. Auch die zweite Tasche war voll. Wie um alles in der Welt kamen die Lavendelblüten in seine Hosentaschen? Er leerte sie und suchte hektisch nach irgendeiner Waffe zu seiner Verteidigung. Er fand eine Schachtel und öffnete sie. Sie war voll mit wunderbar farbig verzierten Schneckenhäusern. Er nahm ein besonders schönes Exemplar in die Hand. Es war überraschend schwer. Plötzlich streckten sich Fühler aus dem