Die Tote von Kalkgrund
Prolog
Verängstigt drängte sich Oana an ihre Leidensgefährtin, die im Dunkel des Lieferwagens neben ihr hockte.
Viele Stunden waren sie nun schon unterwegs, seit sie in Hamburg in den Kombi gepfercht worden waren. Hinter ihnen hatte Nelu den Laderaum bis zur Klappe mit Apfelkisten vollgepackt. Zwischen diesen und dem Führerhaus eingeklemmt, blieb den beiden jungen Frauen nur ein winziger Fleck, auf dem sie mit angezogenen Knien saßen. Schon längst waren ihnen die Beine eingeschlafen und jede noch so kleine Bewegung, um sie zu durchbluten, verursachte höllische Schmerzen. Offenbar war der Wagen auf eine Nebenstraße voller Schlaglöcher gewechselt. Er rumpelte gefährlich und schaukelte so stark, dass die Mädchen die Apfelkisten mit ihren Händen abstützen mussten, damit sie nicht auf sie herabfielen.
Gestern erst waren sie in Hamburg angekommen. Eine weite Reise lag hinter ihnen, seit sie in Tulcea, einer rumänischen Stadt an der Donau, an Bord eines Flussschiffes gebracht worden waren. Während der zweiwöchigen Fahrt mussten sie sich tagsüber verstecken, durften nur manchmal nachts an Deck kommen, um frische Luft zu schnappen.
Neun junge Frauen hatten in dem Verschlag hinter dem Maschinenraum gehaust, alle voller Furcht vor dem, was ihr neues Leben werden sollte. Ihre Verwandten hatten bis zu zweitausend Euro kassiert, für jede von ihnen.
In Hamburg hatte man sie getrennt. Der junge Nelu übernahm Oana und Sorina und brachte sie zu seinem Auto. Die Mädchen weinten und wollten nicht durch die Heckklappe kriechen.
"Nun macht schon!", brüllte Nelu sie an. "Wir haben noch eine lange Fahrt vor uns!"
Wie gelähmt drängten sie sich zitternd aneinander und starrten ihn aus weit aufgerissenen Augen an.
"Ihr habt unwahrscheinliches Glück", versuchte er es mit einer anderen Taktik. "Ihr kommt nach Dänemark, nach Kopenhagen."
Sie wussten nicht, wo Dänemark lag, hatten von Kopenhagen noch nie etwas gehört. Aber als Nelu sagte, das sei die Hauptstadt von einem sehr, sehr reichen und sauberen Land und dort bekämen sie Stellen als Kindermädchen, lösten sie sich voneinander und stiegen zögernd in den Wagen.
Gut würden sie es haben, sagte er schmeichelnd, viel besser als zu Hause. Während er die Kisten hinter ihnen auftürmte, erzählte er von diesem fernen Dänemark, von hübschen bunten Häusern auf vielen Inseln, vor denen immer rot-weiße Fahnen im Wind flatterten, von freundlichen Menschen und von dem großen Meer rundherum um Dänemark und überall dazwischen.
Und nun waren sie fast am Ziel.
Nelu hatte ihnen auch erklärt, dass sie mit einem Boot fahren würden, nachts, da sie keine Papiere hätten und auf den Straßen an der Grenze zwischen Deutschland und Dänemark immer noch scharf nach illegal Einreisenden gefahndet werde.
Oana und Sorina hatten Angst, fühlten sich hilflos und völlig verloren, seit sie vorhin von Nelu gehört hatten, dass eine von ihnen in einem Versteck würde warten müssen, bis auch sie an der Reihe war.
Der Wagen hielt.
Nelu lud fluchend einige Kisten aus und der Schein seiner Lampe fiel auf die beiden Mädchen, die zusammengekauert am Ende der Ladefläche saßen.
"Oana, komm raus! Du, Sorina, bleibst noch sitzen. Ich hol dich nachher ab, dann kommst du in ein Haus und kannst schlafen. Morgen Nacht bist du wahrscheinlich dran."
Oana presste sich an ihre Leidensgefährtin und umklammerte sie wimmernd.
"Los, steh auf, komm raus! Sei nicht blöd, morgen früh bist du schon in Dänemark und schläfst in einem sauberen Bett. Komm endlich, das Boot wird jeden Moment da sein!"
Als Oana mit tauben Beinen wankend neben dem Wagen stand, roch sie sofort den Duft des Meeres, mehr noch, sie konnte die Wellen an den Strand schlagen hören, ganz nah.
"Schau mal da rüber", sagte Nelu und deutete über das dunkle Wasser in die Nacht hinaus.
Oana sah ganz fern ein paar Lichter leuchten