Ein Leben für ein Leben
II
Nach dem Telefonat mit Scott holte ich tief Luft und bereitete meine Abreise vor. Aber nicht, ohne mir zuerst einen Drink zu genehmigen. Ich ging zur Rezeption hinunter, bat den Portier, festzustellen, ob am nächsten Dienstag noch ein Platz in der Business-Class auf dem Direktflug der Alitalia nach New York frei sei, und sagte ihm, er werde mich an der Bar finden. Er kam prompt mit dem Bescheid, ein Platz sei verfügbar. Ich bat ihn, eine Reservierung für mich zu machen und der Verwaltung mein Abreisedatum zu geben. Ich sah auf die Uhr. Halb fünf. Zu spät, um noch vernünftig zu arbeiten. Bestenfalls konnte ich überarbeiten, was ich am Morgen und am Tag zuvor geschrieben hatte. Ich bestellte mir beim Barmann einen Espresso und einen Grappa di Barolo und überlegte, was ich mit meiner Zeit vor dem Abflug in Venedig anfangen sollte. Ein paar Stunden würde ich in der Accademia verbringen und von dort aus zu Fuß zur Kirche I Gesuiti gehen, um noch einmal einen ausgiebigen Blick auf Tizians St. Laurentius auf dem Rost zu werfen. Der Weg war lang. Wenn ich danach noch Zeit hatte, würde ich mit dem Vaporetto zurück nach San Toma fahren, eine Stunde im Gym trainieren, meinem Trainer Fabrizio ciao sagen und ihn noch einmal ermuntern, mich anzurufen, falls er im Frühling wirklich nach New York kam. Ein Geschenk würde ich ihm auch geben. Zweihundert Euro kamen mir ungefähr richtig vor. Irgendwann musste ich auch noch einmal zur Frari-Kirche gehen und meine Augen an den beiden wunderbaren Tizian-Gemälden laben, der Assunta und der Madonna der Familie Pesaro. Auch von dem adligen Winzer und seiner Frau würde ich mich verabschieden, falls sie in Venedig waren, und natürlich von Signor Ernesto. Unbedingt nötig war nichts davon, ich konnte den Contarinis und Ernesto schreiben und erklären, dass ich unerwartet nach New York zurückgerufen worden sei, und mein Geschenk für Fabrizio konnte ich mit der Post schicken - und ich begann mich zu fragen, ob es nicht gescheiter wäre, schon morgen zu fliegen, auch wenn das hieß, dass ich in Paris, Frankfurt oder London umsteigen musste. Zwei Aufgaben lagen vor mir: Ich musste Kerrys Mörder finden und töten, wer immer es war, und ich musste ein unerledigtes Geschäft mit Abner Brown zum Abschluss bringen. Vor beiden konnte und wollte ich mich nicht drücken, das wusste ich. Und doch unternahm ich nichts, um meine Abreise zu beschleunigen. Eine Mischung aus Trägheit, Nostalgie und bösen Vorahnungen hielt mich zurück. Torcello und Venedig hatten mir gutgetan. Ich brauchte noch ein paar Tage Aufschub.
Am nächsten Morgen war ich wie üblich um Viertel vor sechs für meinen Morgenlauf bereit, zog meinen Trainingsanzug und die Laufschuhe an und steckte das Springmesser und mein iPhone in die Tasche meiner Windjacke. Zuerst lief ich zur Anlegestelle des Vaporettos, dann den ganzen Weg zurück zur Basilika. Dort machte ich kehrt, lief zur Fondamenta dei Borgognoni und folgte dem Sentiero Andrich bis zum Ende. Dann wandte ich mich nach Süden, ungefähr in Richtung Burano, hielt mich rechts von der unbewohnten Isola dei Laghi und der Isola Mazzorbo, einst einem Fluchtort vor Barbarenüberfällen, jetzt besser für die Artischocken bekannt, die dort gezogen werden. Durch den Streifen Dünengras, Zwergthymian und Lorbeer, der landwärts zu meiner Linken lag, führte kein Pfad. Hier ging ich gewohnheitsmäßig zum Fahrtspiellauf über, lief abwechselnd schnell und langsamer, schob Kniebeugen, Liegestütze und Hampelmänner ein und dazu ein paar Übungen, die ich mir selber ausgedacht hatte und die nützlich für Ausweichmanöver in offenem Gelände waren. Beim Laufen blieb ich in Deckung, ging in unregelmäßigen Abständen zu Boden, schlug einen Zickzackkurs ein oder kroch. Diese Routine verdarb meine Trainingsanzüge, aber Tarnanzüge war ich leid, und ich wollte auch nicht, dass man mi