Eis!
EINS
Es war ihr, als müsste sie lachen. Das Skalpell in der Hand des Chirurgen zitterte leicht, zwei Schweißtropfen fielen von seiner Stirn auf ihren Bauch. Wenn sie gewusst hätte, was ihr bevorstand, hätte sie sich am Morgen andere Unterwäsche angezogen.
"Sie bleibt weg!" Eine Stimme aus dem Hintergrund. Der operierende Arzt richtete sich auf, sah auf die Bildschirme neben dem Operationstisch.
Sie blieb nicht weg, sie war doch da. Ein bisschen außerhalb ihres Körpers vielleicht. Er hätte nur seine Hand nach ihr ausstrecken müssen, um sie zu berühren. Sie, nicht ihren Körper. "Die wird nicht mehr!" Es war ihr ganz recht, dass er nicht nach ihr griff. Alles war so leicht und schwerelos geworden. Frieden und Leichtigkeit von ungeahntem Ausmaß. Mit dieser aufgeschnittenen, blutverschmierten Hülle unter dem grünen Laken wollte sie nichts mehr zu tun haben. Alles sollte so bleiben, wie es war. "Noch ein Versuch!" Wozu? Sie wollte sich jetzt auf den Weg machen. Wie eine weiße Sonne stand das gleißende weiße Licht mitten im Raum und zog sie magisch an. Eine Stimme rief nach ihr. Ihre Mutter. Es wurde Zeit, ihr zu folgen. "Auf drei!" Harte kalte Hände griffen nach ihr und zwangen sie mit Gewalt zurück in ihren Körper.
Vier Wochen Klinikaufenthalt. Dann wochenlange Rehabilitation im Teutoburger Wald. Zeit genug für Marike Kalenberger, über alles nachzudenken. Immer wieder. Ein Donnerstag im April. Sie hatte sich in den Fall der jugendlichen Handy-Abgreifer in Hannovers U-Bahn-Stationen vertieft. Im Rotlichtviertel am Steintor kam es zu einer Schießerei. Alle, die kein amtsärztliches Attest wegen körperlicher Gebrechen vorlegen konnten, mussten raus. Kalenberger hatte beginnende Arthrose im rechten Kniegelenk und zwei Halswirbelvorfälle zu Protokoll gegeben. Gar nicht mal so schlecht für eine Frau Mitte fünfzig, hatte der Arzt gesagt. Seit Jahren war sie von Einsätzen freigestellt, die absolute körperliche Fitness verlangten. Aber dann die Alarmmeldung von der Einsatzzentrale. Überfall auf einen Juwelier am Raschplatz. Mit Geiselnahme. Die letzten Einsatzkräfte wurden mobilisiert. Ein sehr junger Kollege wurde ihr zugeteilt. Er musste sie sogar daran erinnern, ihre Waffe mitzunehmen.
Der Geiselnehmer hatte sich in der Tiefgarage eines Kinos verschanzt. Eine bedrückende Situation, die tiefen Decken, wenig Licht, jedes Geräusch vervielfachte sich.
Er forderte einen Fluchtwagen. Ein Einsatzteam war bereits vor Ort und führte die Verhandlungen. Der Fluchtwagen sei bereits unterwegs.
Kalenberger würde sich raushalten. Nur Präsenz zeigen. Sie spürte, wie die Situation den jungen Kollegen in Erregung versetzte. Wie hieß er noch gleich? Sie duckte sich in seiner Nähe, um ihn notfalls zurückhalten zu können. Jetzt fiel ihr sein Name wieder ein. Weidlich. Dirk Weidlich. Man musste abwarten, wie sich die Lage entwickelte.
Plötzlich riss sich die Geisel los und versuchte, den Polizeiwagen zu erreichen. Der Geiselnehmer kam hinter der schützenden Autotür hervor, um auf den Flüchtenden zu schießen. In diesem Augenblick sprang Weidlich mit gezogener Waffe auf. Der Geiselnehmer zielte sofort auf ihn. Kalenberger schrie "Nein!", richtete sich ebenfalls auf, und im gleichen Augenblick fielen zwei Schüsse und dann noch einer. Aber den hörte Kalenberger nur noch aus weiter Ferne.
Nach einem knappen halben Jahr war sie wieder zum Dienst erschienen. Hatte sich sogar auf die Kollegen und ihre Arbeit gefreut. Ein Strauß Tulpen stand auf ihrem Schreibtisch. Aber sonst? Immer noch den Fall der jugendlichen Handy-Abgreifer auf dem Tisch. Brannte wohl nicht unter den Nä