Fürchte die Schatten
1
Cyrus
Mai 2020
Ein kühler Morgen im Spätfrühling. Ein kleines Ruderboot taucht aus dem Nebel und gleitet mit jedem Zug vorwärts. Die Wasseroberfläche im inneren Hafen ist so spiegelglatt, dass man jede kleine Welle sehen kann, die von den Rudern ausstrahlt und sich am Bug bricht.
Das Ruderboot folgt der grauen Felsmauer, vorbei an Fischtrawlern und Jachten, bis hin zu einem schmalen Kiesstrand. Der einzige Insasse springt heraus, zieht das Boot weiter auf die Steine, wo es wie betrunken zur Seite kippt. An Land wirkt es unbeholfen. Eleganz: perdu.
Die Kapuze des Anoraks wird zurückgeschlagen, und eine dichte Mähne quillt hervor. Wirklich rotes Haar. Feuerrot. Rot wie der Sonnenaufgang. Sie streift ein Haargummi von ihrem Handgelenk und rafft ihr Haar zu einem einzigen Bündel, das über ihren Rücken fällt.
Mein Atem hat das Fenster meines Zimmers beschlagen. Ich ziehe den Ärmel über das Handgelenk und wische ein kleines Rechteck auf der Scheibe frei, um besser zu sehen. Sie ist endlich da. Sechs Tage habe ich gewartet. Ich habe die Wanderwege abgelaufen, den Leuchtturm besichtigt und die Speisekarte in O'Neill's Bar & Restaurant erschöpfend durchprobiert. Ich habe die Morgenzeitungen gelesen sowie drei Romane, die Touristen zurückgelassen haben, und mir von den einheimischen Trinkern ihre Lebensgeschichte erzählen lassen. Die meisten von ihnen sind Fischer mit Händen so knotig wie Ingwerknollen und Augen, die ins helle Licht blinzeln, wo keine Sonne scheint.
Sie beugt sich über das Ruderboot, schlägt eine Persenning zurück, die Plastikkisten und Pappkartons zugedeckt hat. Die Hände voller Kartons, steigt sie die Treppe vom Strand hinauf und überquert die gepflasterte Straße. Mein Blick folgt ihrem Weg über die Strandpromenade, vorbei an verrammelten Kiosken und Touristenläden, zu einem kleinen Supermarkt, in dem Licht brennt. Sie steigt über einen Packen Zeitungen und klopft. Ein Mann mittleren Alters mit roter Nase und rosigen Wangen zieht eine Jalousie hoch, nickt, schließt den Laden auf,
bittet sie herein und wirft von der Schwelle aus einen wachsamen Blick auf die Straße, vielleicht auf der Suche nach mir. Er weiß, dass ich gewartet habe.
Eilig ziehe ich Jeans und ein Sweatshirt an, streife meine Stiefel über und gehe die Treppe hinunter zu einem Seiteneingang des Pubs. Draußen riecht die Luft nach Seetang und Holzrauch; die Konturen der Hügel schimmern orangefarben in der Ferne, wo Gott die Ofentür geöffnet und die Kohlen für den neuen Tag geschürt hat.
Eine Glocke klingelt an einem Metallarm. Der Ladenbesitzer und die Frau drehen sich zu mir um. Sie geht in Habachtstellung, bereit zu kämpfen oder zu flüchten, weicht jedoch nicht von der Stelle. Sie sieht anders aus als auf den Fotos. Kleiner. Ihr Gesicht ist wettergegerbt, ihre Hände sind schwielig, und ihr linker Daumennagel ist schwarz, als hätte sie ihn sich irgendwo geklemmt.
»Sacha Hopewell?«, frage ich.
Sie greift in die Tasche ihres Anoraks. Für einen Moment stelle ich mir vor, dass sie eine Waffe zieht. Ein Anglermesser oder eine Dose Pfefferspray.
»Mein Name ist Cyrus Haven. Ich bin Psychologe. Ich habe Ihnen geschrieben.«
»Das ist er«, sagt der Ladenbesitzer. »Der Typ, der nach dir gefragt hat. Soll ich Roddy auf ihn hetzen?«
Ich weiß nicht, ob Roddy ein Hund oder ein Mensch ist.
Sacha drängt an mir vorbei und beginnt, Lebensmittel aus den Regalen in einen Einkaufswagen zu packen. Mehl und Reis, Gemüsekonserven und Früchtekompott. Ich folge ihr durch einen weiteren Gang. Erdbeermarmelade. H-Milch. Erdnussbutter.
»Vor sieben Jahren haben Sie in einem Haus im Norden Londons ein Kind gefunden. Es hat sich in einem geheimen Zimmer versteckt.«
»Sie müssen mich mit jemandem verwechseln«, sagt sie schroff.
Ich ziehe ein Foto aus meiner Jackentasche. »Das sind Sie.«
Sie wi