Funkenmord
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»Gleich sind wir da.« Die Stimme der alten Frau hallte durch die klamme Herbstnacht. Mit starrer Miene blickte sie in die Dunkelheit, doch durch den zuckenden Feuerschein der Fackeln wirkte es, als wären ihre Gesichtszüge in ständiger Bewegung. Als kämpfte sie selbst mit den Dämonen, die bei dieser nächtlichen Wanderung heraufbeschworen wurden. »Da hinten ist es passiert. Seid jetzt vorsichtig.«
Angestrengt versuchten ihre Begleiter, in der Schwärze etwas auszumachen, irgendetwas, das ihnen verraten würde, wo genau sich ihr Ziel befand. Einer nahm allen Mut zusammen, holte Luft, doch bevor er etwas sagen konnte, legte die Alte ihren Finger an die Lippen. »Schhhhhhh ...«, zischte sie, wobei ihre Spucke in alle Richtungen flog.
Keiner wagte mehr zu sprechen. Alle spürten, dass etwas Unheilvolles in der Luft lag. »Leise, wir wollen nicht, dass uns jemand bemerkt. Los jetzt«, flüsterte die Frau und winkte mit ihrer knochigen Hand. Dann ging sie weiter. Sie machte dabei keinen Laut, setzte ihre Schritte mit traumwandlerischer Sicherheit. Jedem war klar, dass sie nicht zum ersten Mal hier war. Für ihre Begleiter galt das nicht. Auch wenn sie sich Mühe gaben, sich ebenso geräuschlos zu bewegen, rutschten sie immer wieder im feuchten Gras weg und pressten die Lippen zusammen, um nicht aufzuschreien.
Nach einem anstrengenden Marsch bergauf über schmierige Wiesen und matschige Trampelpfade erreichten sie ein kleines Plateau. »Könnt ihr es schon sehen?«, fragte die Frau, und alle kniffen die Augen zusammen, suchten nach einer bestimmten Form, die sich vom Horizont abhob.
»Da!«, rief einer, streckte die Hand aus, nur um sie gleich wieder vor seinen Mund zu halten, erschrocken über seine eigene Lautstärke.
»Nicht so schlimm«, erwiderte die Frau, »hier oben ist niemand mehr, der uns hören könnte.«
Ihre Begleiter wirkten erleichtert und hielten die Fackeln von ihren Gesichtern weg, um besser sehen zu können. In diesem Moment gab eine Wolke den Mond frei, und sein Schein erhellte die Szenerie mit kaltem Licht. Da erblickten sie es. Es sah noch genauso aus wie damals, niemand hatte es seitdem angerührt. Ein Balken, der schwarz aus seinem gegossenen Fundament in die Höhe ragte, wie ein Finger, der anklagend in den Himmel ragte. Auf halber Höhe ging rechtwinklig ein Teil eines weiteren Balkens ab, ebenfalls verkohlt, links nur ein Stummel. Das Gebilde wirkte wie die Verhöhnung eines Kreuzes. Einst war es ein stolzes Fanal des Glaubens gewesen, das man von weit her sehen konnte. Bis zu dem verhängnisvollen Tag vor gut fünfunddreißig Jahren, an dem dieses Symbol christlicher Werte ins Gegenteil verkehrt wurde.
»Der Tag, an dem Karin Kruse starb ...«, raunte die Stimme der Alten, während sie entschlossen auf das Kreuz zuschritt. Die anderen blickten sich unsicher an und folgten ihr zögernd. »... war der zwanzigste Februar 1985.«
»Funkensonntag«, keuchte eine Frau.
Die Alte nickte. »Ja. Das letzte Funkenfeuer, das jemals in Altusried gebrannt hat. Aus gutem Grund.« Mit einer ausladenden Geste zeigte sie auf das verbrannte Holz. Die Gruppe nickte eifrig. Deswegen waren sie alle hier. »Als Karin Kruse hier ihr Leben auf die schrecklichste Art und Weise aushauchte, ans Kreuz gebunden wie eine zum Tode verurteilte Sünderin, tobte unten im Ort das Leben, die Blaskapelle spielte, und das Funkenfeuer brannte. Das Feuer, mit dem man die Dämonen des Winters austreibt. Dabei waren sie längst hier oben zugange.« Sie sah einen nach dem anderen an und machte eine lange Pause, bevor sie fortfuhr: »Doch dann bemerkte einer der Besucher, dass der Funken nicht das einzige Feuer war. Sah, dass hier oben das Kreuz in Flammen stand. Und dieser Mann ist heute hier ...«
Die Umstehenden sogen erschrocken die Luft ein, als sich aus dem Schatten hinter dem Kreuz eine Gestalt löste und auf sie zuschritt, bis sein Gesicht vom Schein der Fackeln erleuchtet wurd