Hass verjährt nicht
EINS
2015
"Wohlauf, Kameraden, auf's Pferd, auf's Pferd!", Polizeiobermeister Martin Matthes beendet das Telefongespräch und nimmt seine Dienstmütze vom Haken.
"Och, nö", nölt PMAnw Beeke Dettmer, eigentlich Polizeimeisteranwärter und dann auch noch ein -in. "Meine Schuhe sind noch nicht mal trocken von dem Verkehrsunfall auf der B217."
"Liebe Freunde! Es gab schönere Zeiten als die unsern - das ist nicht zu streiten! Und ein edler Volk hat einst gelebt", zitiert Matthes wieder Friedrich Schiller. Er zitiert bei jeder Gelegenheit Friedrich Schiller.
Davon werden Dettmers Schuhe auch nicht trocken. Sie zieht ihre Lederhalbschuhe an, verkrampft ein wenig, läuft die ersten Schritte sehr, sehr vorsichtig, muss sich beeilen - Matthes ist schon am Dienstwagen.
"Was ist denn überhaupt los?", fragt Dettmer, nachdem sie sich auf den Beifahrersitz gewuchtet hat.
Warum haben die jungen Beamtinnen alle so dicke Hintern?, überlegt Matthes, zu meiner Zeit ... gab es gar keine Frauen im Polizeidienst. Oder nur sehr wenige. Und die waren schlank und ... "In der Nähe vom Annaturm", sagt er.
Der Annaturm ist - ohne Antennen - ein 28 m hoher Aussichts- und Richtfunkturm auf dem etwa 405 m ü. NHN hohen Bröhn, der höchsten Erhebung des Höhenzugs Deister im Calenberger Bergland, südwestlich von Hannover. Matthes könnte einiges über Turm und Gaststätte berichten, doch wer sollte ihm zuhören?
Dettmer nimmt die Mütze vom Kopf, wirft sie auf den Rücksitz.
"Eine nasse Dienstmütze schlägt man nach außen aus", Matthes verdreht die Augen, "was hat man euch nur auf der Polizeischule beigebracht?"
"Wie man griesgrämige Kollegen erträgt", murmelt Dettmer, "wo fahren wir überhaupt hin?"
Pause. Frontscheibenwischer an, aus, an, Heckscheibenwischer an, aus. "Die Jägerallee hoch und dann müssen wir schauen."
"Wonach?"
"Hab ich nicht so genau verstanden, und das Telefongespräch war plötzlich weg."
"Ach nee."
"Wir müssen eben aufpassen, da steht irgendwo ein dunkelgrüner Mazda. Der Anrufer hat Pilze gesammelt."
"Bei dem Wetter?"
"Pilzsammler sind von außen und innen imprägniert, wie sollten sie sonst ihre Sammelleidenschaft überleben?"
"Ich esse nur Mu-Err-Pilze beim Chinesen", sagt Dettmer.
"Gesammelt von kurzsichtigen chinesischen Omas oder rachsüchtigen Jungrevolutionären!"
Der Regen prasselt gegen die Windschutzscheibe.
"Müssen wir da wirklich raus?" Dettmer schaudert es. "Ich glaub nicht an den Toten und wenn, dann hält er sich bei dem Wetter auch noch bis morgen."
"Was ist das nur für eine Dienstauf... - da steht der Mazda."
"Und der Pilzsammler sitzt im Auto, weil's ihm im Wald zu nass ist."
"Keine Ausreden, der Mann muss hinaus ins feindliche Leben, muss wirken und streben und pflanzen und schaffen, erlisten, erraffen ..., Schiller, Die Glocke."
"Dann muss der Mann eben, ich bin eine Frau."
"Kultur kann auch Frauen nicht schaden."
Der Mann im dunkelgrünen Mazda lässt aufs Anklopfen die Seitenscheibe herunter. "Sie haben angerufen?", fragt Matthes. Eine Qualmwolke strömt aus dem Auto, Matthes muss husten, er hat sich bereits vor Jahren das Rauchen abgewöhnt.
"Ja."
"Können Sie uns bitte den Fundort der Leiche zeigen?" Wasser läuft Dettmer in den Jackenkragen.
"Könnte ich, aber nicht bei dem Regen. Immer den Waldweg hinauf, nicht weit und dann auf der rechten Seite."
"Kommen Sie morgen um zehn ins Polizeikommissariat, da müssen wir ein Protokoll aufnehmen."
"Um zehn Uhr?", ereifert sich der Pilzsucher, "Morgens?"
"Da fällt mir ein, der Termin ist belegt, also um acht. Weiterhin Fungi heil!"
"So ist's recht", sagt Dettmer, als sie widerwillig losstapfen, "den Chinesen beleidigen und dem Italiener die Pizza aus dem Ofen reißen."
"Stets ist die Sprache kecker als die Tat."