Hummelstich - Mord unterm Tannenbaum
1. Leise rieselt der Schnee
21. Dezember, drei Tage vor Heiligabend
Es hatte wieder zu schneien begonnen. Hummelstich, die kleine Gemeinde am Fuße des Kyffhäusergebirges, erstrahlte in weihnachtlichem Glanz. Die Menschen hatten ihre Häuser mit bunten Lichtern, Sternen und Zweigen geschmückt und zahlreiche Schneefiguren - kleine, große, dicke und dünne - in ihren Vorgärten errichtet. Aus der Ferne sah der Ort beinahe wie ein winterliches Spielzeugdorf aus, das im Inneren einer Schneekugel steckte.
Auch auf dem Dorfanger war - wie nicht anders zu erwarten - alles ruhig und friedlich. Es gab niemanden, der zankte. Niemanden, der auf Krawall aus war. Hier herrschte nichts als Harmonie, und diese war so allgegenwärtig, dass sie die gesamte Ortschaft in einen goldenen Schimmer hüllte.
Erst gegen Nachmittag fegte ein frostiger Wind heran und wirbelte den frisch gefallenen Schnee auf. Der Ruf einer Eule drang vom nahen Wald herüber, und zwei Wildkaninchen hoppelten in blinder Panik querfeldein. Kurz darauf stapfte eine große, gebeugte Gestalt vorbei und hinterließ tiefe Spuren im Schnee. Den Kragen des purpurroten Mantels hochgeschlagen und die dicke Zipfelmütze leicht schief auf dem Kopf, zog die Gestalt einen Schlitten hinter sich her, auf dem ein prall gefüllter Sack thronte.
In den folgenden Minuten schneite es so stark, dass sich die Flocken wie ein Vorhang um das Geschehen legten. Darum sah auch niemand, dass der grobe Leinensack an einer Stelle leicht beschädigt war. Es war bloß ein kleines Loch, nicht größer als eine Zwei-Euro-Münze, das selbst bei guter Sicht kaum aufgefallen wäre. Und da es niemand sah, bemerkte auch niemand, dass etwas daraus hervorragte. Man hätte sich schon direkt darüberbeugen müssen, um erkennen zu können, dass es sich dabei um den Teil eines menschlichen Körpers handelte. Ein großer Zeh, um genau zu sein.
Während draußen die Schneeflocken tanzten, war das Haus von Sven und Sarah Grüneis von wohliger Behaglichkeit erfüllt. Unzählige Lichter sorgten für ein stimmungsvolles Ambiente. Überall gab es flauschige Kissen und Decken, in die man sich einkuscheln konnte. Es duftete nach Kiefernholz, Braten und Zimt. Das Lachen eines Kindes drang durch die Räume. Irgendwo bimmelte ein Schellenglöckchen.
Bea von Maarstein blickte zu dem prasselnden Kaminfeuer hinüber und fröstelte. Sie zog sich den kribbelbunten Wollschal enger um die Schultern und griff nach einer der Decken, um sich darin einzuwickeln. Es war nicht jene Art von Frösteln, die mit einer Erkältung einherkam, sondern eine, die von einer üblen Vorahnung ausgelöst wurde. Dieses seltsame Gespür für Unheil war für Bea nicht neu, im Gegenteil, in den vergangenen sechsundsechzig Jahren ihres bisherigen Lebens hatte sie nur allzu oft ihre Erfahrungen damit gemacht. Und wie jedes Mal war dieses ungute Gefühl auch heute völlig unerwartet aufgetaucht.
Bislang war der Tag jedenfalls sehr fröhlich und unbeschwert verlaufen. Sie hatte gemeinsam mit Sven und Sarah das Haus mit Lichtern, Kugeln und grünen Zweigen dekoriert. War mit Krümel, dem Hund der Grüneis', durch den verschneiten Winterwald gelaufen. Hatte mit der knapp zweijährigen Lotta eine Schneeballschlacht angezettelt und später Borwin beim Kochen geholfen. Nun saßen sie alle an dem großen Esstisch in der Wohnküche von Familie Grüneis und genossen das exzellente Mahl, das Borwin für sie zubereitet hatte.
»Ich freue mich so, dass wir die Feiertage diesmal gemeinsam verbringen werden«, sagte Sarah. Ihre Augen leuchteten noch heller als die Flammen der vier Kerzen, die in der Mitte des Tisches standen.
Alle nickten zustimmend, doch niemand brachte einen Ton über die Lippen. Dies war der Vorspeise, einer aromatischen Wildpastete, geschuldet, die so vorzüglich schmeckte, dass sich alle den Mund damit vollstopften. Sogar Krümel und Lotta mümmelten leise vor sich hin.
»Von mir aus könnte