Juister Reiter. Ostfrieslandkrimi
Kapitel 1
"Moin, ich muss einen Diebstahl melden."
Kommissarin Antje Fedder blickte von ihrer Schreibunterlage auf, als sie mit diesem Satz angesprochen wurde. Die Juister Inselpolizistin hatte soeben ihren morgendlichen Dienst begonnen. Die Polizeistation des kleinen ostfriesischen Eilands war in einem Einfamilienhaus untergebracht, dessen erstes Stockwerk Antje als Wohnung diente. Wenn sie zur Arbeit wollte, musste sie einfach nur die Treppe hinuntergehen.
Die Melderin war ihr seit vielen Jahren bekannt. Tatje Clasen hatte die Reitschule ihres Vaters übernommen und leitete den Betrieb seit einiger Zeit. Antje und Tatje waren ungefähr im selben Alter, also Anfang dreißig. Genau wie die Inselpolizistin war die Reitlehrerin blond, wenn auch von einem etwas dunkleren Farbton. Sie trug Schaftstiefel, Breeches und ein ärmelloses rotes T-Shirt mit dem Werbeschriftzug ihrer Reitschule. Das war ihr übliches Erscheinungsbild, zumindest in der warmen Jahreszeit.
Antje griff in das Regal hinter sich und zog ein Formular für eine Strafanzeige hervor.
"Nimm doch bitte Platz, Tatje. Was wurde denn gestohlen?"
Die Reitlehrerin setzte sich widerstrebend auf die äußerste Kante des Besucherstuhls, der neben dem Schreibtisch stand. Sie schien unter einer starken inneren Anspannung zu stehen. Ihr Blick irrlichterte durch das kleine Wachlokal, und sie drehte pausenlos einen Ring am Mittelfinger ihrer linken Hand. Die Nervosität stand ihr ins Gesicht geschrieben.
"Nicht was, sondern wer, Antje. Justus ist fort, und er ist für mich kein Gegenstand!"
"Das habe ich nicht behauptet", stellte die Kommissarin klar. "Also geht es um eines deiner Pferde?"
Tatje nickte heftig.
"Entschuldige, ich wollte dich nicht anpflaumen. Woher sollst du wissen, wer oder was mir geklaut wurde? Justus ist ein wunderschöner hellbrauner Araberhengst."
"Wann hast du bemerkt, dass er fort ist?"
"Vor einer halben Stunde. Ich bin dann gleich hierher gekommen."
Antje schaute auf die Uhr. Es war jetzt fünf Minuten nach acht. Tatje war sofort hereingestürmt, nachdem die Polizistin die Tür aufgeschlossen hatte.
"Und es ist nicht möglich, dass einer deiner Pensionsgäste das Pferd genommen hat?"
"Das will ich nicht hoffen. Sie dürfen nicht eigenmächtig über die Tiere verfügen, mein Stall ist kein Selbstbedienungsladen! Für neun Uhr steht heute eigentlich ein gemeinsamer Strandritt auf dem Programm, aber das können wir wohl vergessen."
Tatje begann plötzlich zu weinen, was Antje völlig unvorbereitet traf. Die Inselpolizistin kannte die Reitlehrerin als eine durchsetzungsstarke Frau, die sich nichts gefallen ließ und die sich im Geschäftsleben behaupten konnte. Antje konnte sich nicht erinnern, Tatje jemals zuvor in Tränen aufgelöst gesehen zu haben. Sie legte beruhigend eine Hand auf die Schulter der Frau.
In diesem Moment öffnete sich die Tür, und Kommissar Roland Witte betrat die Polizeistation. Antjes Kollege lebte in einer kleinen Pension und kam jeden Morgen mehr oder weniger pünktlich zum Dienst.
"Moin, was ist denn hier los?"
Antje stellte Tatje und Roland einander vor. Dann erklärte sie, was passiert war. Der dunkelhaarige Polizist nickte.
"Wurde denn außer dem Pferd noch etwas gestohlen?", wollte er wissen.
"Wie meinen Sie das? Ist es nicht schon schlimm genug, dass Justus fort ist?", fauchte die Reitlehrerin. Antje gestikulierte hinter ihrem Rücken, damit Roland sich etwas feinfühliger verhielt. Manchmal konnte er so ein grober Klotz sein! Obwohl ... meistens war er charmant und entgegenkommend. Die Kommissarin hatte sich in stillen Stunden schon gefragt, ob er in ihr mehr sah als nur eine Kollegin. Dann und wann warf er ihr Blicke zu, die ihr abwechselnd heiße und kalte Schauer über den Rücken jagten. Doch jetzt war der falsche Zeitpunkt für solche Überlegungen.
"So habe ich das nicht ge