Killerwelle
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BIRMINGHAM, ENGLAND
VOR VIER MONATEN
William Cantor hatte bereits in das Mikrofon geniest, ehe sich der Juckreiz in seiner Nase richtig bemerkbar gemacht hatte. Das Bedürfnis überfiel ihn regelrecht, und ihm blieb keine Zeit mehr, den Kopf abzuwenden. Der Schleim, der durch das Niesen in seine Nasenhöhle gedrückt worden war, musste zurückgezogen werden, und dieses Schnauben hallte nun elektrisch verstärkt durch den nahezu leeren Versammlungsraum.
»Verzeihung«, sagte er und hüstelte. Dabei hielt er sich die Hand vor den Mund und wandte sich ab, um den etwa zehn Personen, die sich zu seinem Vortrag eingefunden hatten, zu demonstrieren, dass er kein kompletter Banause war. »Wie ein Amerikaner, den ich auf dem Christ Church College kannte, einmal sagte« - ihr habt richtig gehört, ihr Bauerntrampel, ich war in Oxford -, »alles andere lässt sich immer im Griff behalten, doch ein Schnupfen macht mit einem einfach, was er will.«
Die Reaktion des Publikums mochte ein höfliches Lachen gewesen sein, sie klang jedoch eher nach einem gedämpften Husten.
Herrgott im Himmel, wie er diese Vorträge hasste, die stets in Erweiterungsbauten oder in Dorfbibliotheken stattfanden, wo die einzigen Zuhörer Pensionäre waren, die sich nicht im Mindesten für das Vortragsthema interessierten, sondern lediglich nichts Besseres mit dem Nachmittag anzufangen wussten. Schlimmer waren jedoch solche Städte wie Birmingham, derart heruntergekommen, dass dort so gut wie nie die Sonne schien. Und die Leute im Saal waren nur gekommen, um sich aufzuwärmen, ehe sie wieder hinausgingen, um Passanten um ein paar Cent anzuschnorren oder sich vor einer Suppenküche anzustellen. Er hatte zehn Teilnehmer gezählt, als er das Podium betrat, und nicht weniger als vierzehn Mäntel. Dazu stellte er sich eine ganze Reihe verrosteter Supermarkt-Einkaufswagen vor, die von allem möglichen Krempel überquellend auf dem Bibliotheksparkplatz standen.
»'Ich habe nicht einmal die Hälfte dessen erzählt, was ich gesehen habe.'« Eine viel bessere Einleitung, als das Mikrofon mit Rotz zu bespucken, dachte Cantor reumütig. Trotzdem, er hatte seine Ziele, und man konnte nie wissen, vielleicht war die vermummte Frau im hinteren Teil des von Neonröhren erhellten Raums J. K. Rowling in Tarnkleidung. »Das waren die letzten Worte, die der berühmte venezianische Entdecker und Forscher Marco Polo auf seinem Totenbett von sich gab.
Wir wissen aus seinem berühmten Buch, Die Wunder der Welt, das er Rustichello da Pisa diktierte, während beide in einem Gefängnis in Genua saßen, dass Polo zusammen mit seinem Vater Niccolò und seinem Onkel Maffeo« - die Namen kamen Cantor trotz seiner Kopfgrippe flüssig über die Lippen, da es bei weitem nicht das erste Mal war, dass er diesen Vortrag hielt - »viele unglaubliche Entdeckungen machte und die erstaunlichsten Dinge zu sehen bekam.«
Im hinteren Teil des Raums entstand eine kurze Unruhe, als ein Neuankömmling aus dem wenig einladenden Lesesaal der Bibliothek hereinkam. Metallene Klappstühle knarrten und quietschten, während sich ein paar Zuhörer umdrehten, um zu sehen, wer da noch erschienen war, um sich den Vortrag anzuhören. Wahrscheinlich nahmen sie an, dass es ein obdachloser Kumpel vom Chamberlain Square war.
Der Mann trug einen Kaschmirmantel, der fast bis auf den Fußboden reichte, und zwar über einem dunklen Anzug und einem dunklen Hemd mit ebenfalls dunkler Krawatte. Er war hochgewachsen und von massiger Statur. Mit einer Handbewegung entschuldigte er sich für sein verspätetes Erscheinen und suchte sich einen Sitzplatz in der hintersten Reihe, ehe Cantor etwas von seinem Gesicht erkennen konnte. Das sah ja vielversprechend aus, dachte der ständig am Rand einer Pleite entlangbalancierende Gelehrte. Wenigstens trug dieser Kerl Kleider, die nicht schon mehrmals ausrangiert worden waren.
Cantor