Mord am Marienplatz
Montag, 25. April 1870
Nach Emmas Frage wurde es still im Laden. Von draußen drangen Straßengeräusche herein: aufgebrachte Frauenstimmen, das fröhliche Pfeifen eines Buben, Hundegebell, das Schimpfen eines Mannes. Ein Fuhrwerk ratterte vorbei. Je lauter es draußen zuging, umso unerträglicher empfand Emma die Stille im Laden. Mehrmals räusperte sie sich. Die Luft war trocken, Staub kitzelte ihr in der Nase. Sie unterdrückte ein Niesen. Schnell wischte sie sich mit dem Handrücken über die Stirn. Dass ihre Mission schwer würde, hatte sie befürchtet, aber derart schwer? Josef Riederer war kein sonderlich leichter und erst recht kein besonders angenehmer Gesprächspartner.
Für kurze Zeit erfüllte das Brummen eines Insekts den Laden. Emma folgte ihm mit den Augen, wie es die Spur des Sonnenlichts suchte, das gelblich trüb durch die Fensterscheiben drang. Auf einmal kam das Insekt Alois zu nah. Ein gezielter Schlag seiner großen Hand brachte es zur Strecke. Das Brummen erstarb.
Emma konzentrierte sich wieder ganz auf Riederer. Er verströmte Schweiß- und Seifengeruch, vermischt mit einer Wolke schweren Herrenparfums. Breitbeinig hatte er sich hinter dem Verkaufstresen aufgebaut und rührte sich nicht. Rechts und links von ihm standen Tischnähmaschinen der Marke Singer. Ihr auf Hochglanz polierter Stahl funkelte im Sonnenlicht. Zwischen seinen Nähmaschinen wirkte Riederer wie ein weiteres Ausstellungsstück.
Emma schien es, als warte sie bereits eine Ewigkeit auf seine Antwort. Um sich abzulenken, versuchte sie, sein Äußeres mit dem, was sie über ihn wusste, zusammenzubringen: Sein winziger Kopf thronte auf einem breiten, kurzen Hals, der kaum Platz für den steifen Hemdkragen ließ. Ohnehin war der kräftige Hals nur die folgerichtige Fortsetzung des massigen Oberkörpers. Der dunkle Anzug passte nicht zu ihm; das feine englische Tuch spannte über den Armen. Einem Metzgergehilfen oder Bauernburschen hätte die derbe Figur zur Ehre gereicht, aber dem Besitzer eines der größten Nähmaschinengeschäfte der Stadt?
Sie verbot sich weitere Gedanken dieser Art. Es war nicht der rechte Zeitpunkt, Schlechtes über ihn zu denken. Schließlich wollte sie ihn zu ihrem Vorteil umstimmen. Unwillkürlich streckte sie ihren zierlichen Körper in die Höhe und drückte die flache Brust heraus.
Sie bemerkte die Schweißperlen auf Riederers Stirn. Suchend wanderte sein Blick durch den Raum, haarscharf an ihr vorbei. Die knollige Nase bildete den einzig ruhenden Pol in seinem Gesicht. Um den Mund zuckte es. Langsam färbten sich seine Wangen dunkelrot, die Adern an den Schläfen schwollen an. Er beugte sich nach vorn, stützte sich mit den Händen auf der Ladentheke ab. Das Holz ächzte unter der Belastung.
Hinter Emma scharrte Alois mit den Füßen. Warum konnte der keine Ruhe geben! Sie presste die Lippen aufeinander, um nicht laut loszuschimpfen.
Plötzlich riss Riederer mit einem gurgelnden Geräusch den Mund auf. Ein, zwei seufzerähnliche Laute kamen zunächst hervor, dann brach das Lachen aus ihm heraus, laut und dröhnend.
Es traf sie wie eine Ohrfeige. Unwillkürlich fasste sie nach Alois' Arm. Mit einem wütenden »Lass mich!« entwand er sich ihrem Griff und schrie etwas Richtung Riederer. Emma presste die Hände auf ihre Ohren und kreischte »Ruhe« mitten in das Zetern der beiden Männer hinein.
Schlagartig verstummten sie wieder. Riederer wischte sich mit einem Taschentuch die Stirn, während Alois sie mit offenem Mund anstarrte.
»Was gibt's da zum Lachen?«, fragte sie erbost. Sorgfältig strich sie den Stoff ihres Rocks glatt. »Ob's die teure Nähmaschine wieder zurücknehmen, hab ich gefragt. Keine zwei Wochen ist's her, dass ich die bei Ihnen gekauft hab. Gehütet hab ich's wie meinen Augapfel: keine Kratzer an der Maschine, keine am Koffer, kein gar nichts.«
Als Riederer weiter schwieg, forderte sie ihren Bruder auf: »Alois, hol's einmal her, damit sich der Herr Riederer das selbs