Offenes Spiel
Mittwoch, 15. August Kapitel 1
Als Sebastian Hochgräber an diesem Morgen wach wurde, war er bereits schlecht gelaunt. Volkers Abschiedsfeier gestern Abend war in Punkto Alkoholgenuss etwas aus den Fugen geraten.
Er rollte sich aus dem Doppelbett und setzte mühsam die Beine auf den Fußboden. Barfuß tappte er in die Küche, ließ das Wasser in die Spüle laufen und wartete, bis es kalt genug war, um seinen Brand zu löschen.
So, jetzt konnte dieser verdammte Tag kommen. Ohne Volker und mit der Neuen. Er wusste noch nicht einmal ihren Namen. Er trank noch einen schnellen schwarzen Kaffee und verließ dann die Dreizimmerwohnung in der Spandauer Altstadt.
Wie jeden Morgen um diese Zeit war die Stadtautobahn voll, und er brauchte über eine Stunde bis nach Tempelhof. Es wurde wirklich Zeit, sich eine Wohnung näher an der Dienststelle zu suchen. Doch es würde ihm schwerfallen, Spandau zu verlassen. Hier war er aufgewachsen und hier hatte er elf Jahre lang mit Erika gewohnt. Sie war vor zwei Jahren aus- und drei Wasseragamen waren eingezogen. Er hatte ihnen ein großzügiges Terrarium gebaut. Nach seiner Pensionierung würde er sich einen Hund anschaffen, jeden Mittag mit ihm zum Hundeauslaufgebiet Bernauer Straße fahren und dort entlang dem Maschendrahtzaun des Flugfeldes spazieren gehen, um die landenden und startenden Flugzeuge zu beobachten. Sofern es dann den Flughafen Tegel noch geben sollte, dachte er wehmütig, und die Rentenpolitik die Anschaffung eines Hundes finanziell noch möglich machte.
Als er aus dem Fahrstuhl trat, war sein Kopf dank einer Aspirin wieder klar und seine Laune durch eine Oldiemix-CD während der Autofahrt wesentlich gebessert. Sven und Timo, Kollegen aus dem Dezernat für Kapitalverbrechen, kamen ihm entgegen. Sie hatten ihre Büros auf der gleichen Etage im LKA Berlin-Tempelhof wie er.
"Seid Ihr immer noch an der Postbotensache dran?", fragte Sebastian.
"Ist sogar noch einer dazu gekommen. Vorgestern. Und wieder im gleichen Haus", antwortete Sven und Timo fügte hinzu: "Den letzten hat's diesmal bös erwischt. Liegt im Koma."
Meine Güte! Sebastian hatte bisher gedacht, Briefträger sei ein stinklangweiliger Beruf.
Er betrat sein Büro und es beschlich ihn dasselbe unangenehme Gefühl wie heute Morgen beim Aufwachen. "Na, mein Kleiner, auch schon da?" war der immer gleiche dumme Spruch Volkers gewesen. Dabei überragte er, der "Kleine", Volker mit einem Meter vierundachtzig um rund zehn Zentimeter und zählte mit inzwischen 47 Jahren ebenfalls schon fast zum "Alten Eisen". Gut, dass er nicht weiter zum Nachdenken kam, denn es war Zeit für den "Runden Tisch", die tägliche Dienstbesprechung der Kollegen.
Im Schlepptau von Dienststellenleiter Jagusch, der wie ü blich als Letzter kam, betrat eine hochgewachsene junge Frau den Raum. Alle Kollegen und Kolleginnen verstummten.
"Ich darf Ihnen vorstellen: die neue Kollegin für die Abteilung Wirtschaftskriminalität, Claudia Pandura. Kriminaloberkommissarin, Studienabschlussnote 1, zwölf Jahre Berufserfahrung, alle Fortbildungsseminare in moderner Technologie. Also, Jungs und Mädels, strengt euch an", stellte sie Jagusch vor und ließ seinen Blick halb amüsiert, halb lauernd über die Gruppe gleiten.
Claudia Pandura trat näher und sah sich nach einem freien Stuhl um. Die neue Kollegin hatte lange, hellblonde Haare und runde, weiche Proportionen - schlicht eine umwerfende Figur. Ihre neuen Kollegen lächelten sie an, die Kolleginnen weniger intensiv. Aber nur zu Beginn, denn dann fand Claudia Pandura mit warmherziger Stimme ein paar Begrüßungsworte, und schon hatte sie alle Anwesenden für sich eingenommen. Sebastian registrierte es missmutig, auch das sympathische Lächeln auf ihren Lippen, aber ihren weiteren Worten hörte er kaum mehr zu. Stattdessen fragte er sich, wie er den ersten Tag mit einem Computerfreak herumkriegen sollte. Oder, wenn's ganz schlimm kommen sollte, die nächsten Jahre