Sherlock Holmes - Neue Fälle 11: Sherlock Holmes und die indische Kette
Prolog
1870 - Golf von Bengalen
Die vom Sturm aufgewühlten Wellen warfen die Blue Bird von einer Seite zur anderen. Noch nie zuvor hatte der Erste Offizier in Küstennähe solch ein Unwetter erlebt. Vor wenigen Minuten erst hatten sie es geschafft, die Segel zu reffen. Zu schnell war die Hölle über sie hereingebrochen. Leichtgläubige Menschen hätten an einen Fluch denken mögen, denn trotz aller Aufklärung war die indische Halbinsel immer noch gut für jeden Aberglauben.
Der letzte Matrose kletterte gerade an den Wanten herunter und hatte es fast geschafft, als das Schiff nach unten sackte. Eine nachfolgende Welle verpasste ihnen eine Breitseite und spülte den Seemann fort.
"Mann über Bord!", rief der Erste Offizier, einem eingebläuten Instinkt folgend, und deutete auf die Stelle, an der es geschehen war.
Sein Signal wurde mehrfach wiederholt. Die wenigen Männer, die noch an Deck waren, begaben sich sofort mit einem Rettungsring zum Unglücksort. Es war ein hilfloses und sinnloses Unterfangen. Die Matrosen mussten sich gegenseitig festhalten, um nicht hinterhergespült zu werden. Mittlerweile war ihr Kamerad unrettbar verloren.
Eine weitere ungeheuerliche Welle brachte die Welt um sie herum ins Schwanken. Dem Ersten Offizier wurden die Beine weggezogen. Er schlug hart auf den Planken auf, versuchte noch, sich im Fallen auf die Seite zu drehen, doch es ging alles viel zu schnell. Mit dem Schädel donnerte er auf das Holz und wurde ohnmächtig.
Er fühlte sich wie nach einem Besäufnis. Vorsichtig öffnete er die Augen und starrte auf die Decke seiner Kabine. Das Schiff lag ruhig im Wasser. Wenn dies nicht das Jenseits war, dann hatten sie es geschafft.
"Er ist wieder bei Bewusstsein", sagte jemand. Es war der Schiffsarzt, den die Reederei ihnen zugestand.
"Ich sage dem Käpt'n Bescheid", antwortete eine andere Stimme, die der Erste Offizier allerdings nicht zuordnen konnte.
"Ist das Schiff in Sicherheit?", brachte er mit Mühe heraus und wusste im selben Moment, wie unsinnig seine Frage war.
Die Tür wurde geöffnet und wieder zugeschlagen, während sich der Arzt über ihn beugte.
Der Erste wollte ihm keinesfalls so kraftlos begegnen. "Es geht schon", nuschelte er und kämpfte sich in eine sitzende Haltung. Als durch seine Hüfte ein kurzer, stechender Schmerz jagte, sog er geräuschvoll die Luft ein.
Alles in der Offizierskajüte war durcheinandergeworfen. Bücher, Bilder und alle anderen Habseligkeiten lagen in wilder Unordnung kreuz und quer über den Boden verstreut. Der Stuhl hatte ein Bein eingebüßt und lag wie ein erlegtes Tier in einer Ecke des Raums, deshalb hatte der Arzt eine Truhe an das Bett geschoben und nutzte sie als Sitzmöbel.
"Ich sagte Ihnen doch, Sie sollen liegen bleiben."
"Zum Ausruhen ist später noch Zeit. Ich muss die Schäden und die Ladung inspizieren. Wie viele Männer haben wir verloren?"
"Durch einen glücklichen Zufall nicht einen einzigen."
"Das kann nicht sein ... Ich habe selbst gesehen, wie einer über Bord ging."
"Der wurde wieder herausgefischt. Sein Zustand ist erstaunlich gut für das, was er durchgemacht hat."
Der Erste ignorierte den Schmerz und stieg aus dem Bett. Für einen Moment musste er sich an dem Arzt festhalten, weil sich alles um ihn drehte. Mit geschlossenen Augen wartete er ab, bis das Schwindelgefühl verging.
"Sie sollten wirklich auf mich hören", sagte der Arzt.
"Wo befindet er sich?"
"Der Matrose? Im Zwischendeck."
Der Erste schaute an sich hinunter. Jemand hatte ihn bis auf die Unterwäsche ausgezogen.
"Geben Sie mir eine Hose und ein frisches Hemd aus der Truhe, auf der Sie sitzen."
Kopfschüttelnd folgte der Arzt dieser Bitte.
Der Erste Offizier zog sich im Sitzen an. "Kommen Sie mit und helfen Sie mir", sagte er schließlich. "Sie müssen mich stützen."/