Spur in die Dunkelheit
Malmö, Ribersborgs Strand, 20. Oktober
Hätte er sich nur nicht umgesehen! Es waren dunkle Wolken aufgezogen, um die strahlende Sonne dieses Herbsttages zu verdecken, der Wellengang auf dem Öresund wurde deutlich unruhiger, und das Signal einer aus dem Hafen auslaufenden Fähre ließ Frank Thervall sich noch einmal umdrehen. Dabei erblickte er etwas Eckiges im feinen Sand des Strandes, beugte sich herab und hob es auf. Es war eine Klarsichthülle, in der sich eine Plastikkarte, ein Kørekort, befand, ein dänischer Führerschein von der anderen Seite des Sundes, aus Kopenhagen. Unwillkürlich warf Frank Thervall einen Blick auf die Öresundbrücke, die sich majestätisch hinter den Klippen im Stadtteil Limhamn über die Ostsee erhob, um die südschwedische Region Skåne mit der dänischen Hauptstadt zu verbinden. In seinem Rücken lag die in Malmös Norden neu geschaffene Hafencity von Västra Hamnen mit Sundpromenade, Neubauten und ihrem alles überragenden Wahrzeichen Turning Torso, das Geschäfte und Wohnungen in mehr als 50 Etagen beherbergte. Vermutlich war der Führerscheininhaber von Kopenhagen aus herübergefahren, in Malmö am Strand gewesen und hatte seinen Kørekort hier verloren. Thervall steckte den Führerschein in die Tasche seiner Jeans, um ihn bei nächster Gelegenheit bei der Polizei abzugeben. Hätte er nur geahnt, welche Kette von Zufällen er in Gang setzen würde, die sein eher belangloses und halbwegs geordnetes Leben aus den Angeln heben würde er hätte das Dokument zurück in den Sand fallen lassen. Er verließ Ribersborgs Strand und stieg auf die Holzbrücke, die zur Strandsauna Kallbadhus führte. Dort schwang er sich auf sein am Geländer angelehntes Fahrrad.
Einige wenige Skater und Jogger begleiteten ihn an diesem bereits sehr kühlen Oktobernachmittag auf dem Weg an der Strandpromenade, bis er in die Mariedalsvägen abbog und an der Stadtbibliothek vorbeifuhr. Hier endeten die Schienen der alten Museumsstraßenbahn im Nichts und symbolisierten den offenen Ausgang der Diskussion über die Frage, ob die vor dreieinhalb Jahrzehnten eingestellte Straßenbahn nicht als moderne Stadtbahn wieder in ganz Malmö eingeführt werden sollte, um die chronisch überfüllten Stadtbusse von Skånetrafiken zu entlasten. Konkrete Vorüberlegungen in diese Richtung zu entwickeln das war das Projekt, über das Kristina Lindström ihre Dissertation schrieb und durch das Frank Thervall sie hier kennengelernt hatte, in der Stadtbibliothek, an deren großzügiger Glasfront er eben vorbeiradelte. Thervall lenkte sein Fahrrad quer über den Gustav-Adolfs-Torg. Der gepflasterte Platz, von einer Seite von einer großen Bushaltestelle und von den drei anderen Seiten von Altbauten, Hotels und einer modernen Einkaufspassage umrahmt, stellte einen zentralen Treffpunkt dar. Ein kunstvoller Brunnen und konisch geformte Laternen, deren Masten in der für das Stadtwappen typischen dunkelgrünen Farbe lackiert waren, verbanden nostalgischen Charme mit modernem urbanem Design. Frank bog in die abwechselnd von Altbauten und modernen Häusern gesäumte Stora Nygatan ein und hielt am Eingang zur Fußgängerzone mit dem dominanten Glaspalast des Kaufhauses Åhlens. In dem auf der Rückseite des Eckhauses gelegenen großzügig angelegten und mit Holzdielen ausgestatteten Treppenhaus knarrten die Stufen, als er zu Kristinas Dachgeschosswohnung hinaufstieg, die bereits im Flur einen Hang zu Kontrasten und moderner Architektur offenbarte. Die eine Wand zierte ein auf die Größe eines Posters kopiertes Foto der Göteborgsoperan, des Opernhauses von Göteborg. Der an der gegenü