Suche mich nicht
EINS
S imon saß auf einer Bank im Central Park - in Strawberry Fields, um genau zu sein - und spürte, wie ihm das Herz brach. Das bemerkte natürlich niemand - zunächst jedenfalls nicht. Erst als die Fäuste flogen und zwei Touristen, ausgerechnet aus Finnland, zu schreien anfingen, während neun weitere Parkbesucher aus den unterschiedlichsten Ländern den ganzen abscheulichen Vorfall mit ihren Handys filmten.
Aber bis dahin sollte noch eine Stunde vergehen.
In Strawberry Fields gab es weder Erdbeeren, noch konnte man diesen knapp einen Hektar großen Parkabschnitt als "Feld" (Einzahl) bezeichnen, und "Felder'" (Plural) traf die Sache schon gar nicht. Aber der Name spielte auch nicht auf eine aktuelle oder frühere Nutzung dieser Fläche an, vielmehr bezog er sich auf den Beatles-Song Strawberry Fields Forever . Strawberry Fields ist eine dreieckige Fläche im Central Park West auf Höhe der 72nd Street und ist dem Andenken John Lennons gewidmet, der direkt gegenüber im Dakota Building erschossen wurde. Das Herzstück der Gedenkstätte ist ein rundes Mosaik aus schwarzen und weißen Steinen, die in dessen Mitte ein einzelnes Wort bilden:
IMAGINE
Tief bestürzt blickte Simon vor sich hin, nur gelegentlich blinzelte er. Touristen strömten herbei und machten Fotos mit dem berühmten Mosaik - Gruppenbilder, Selfies, manche knieten sich auf die Steine, manche legten sich darauf. Wie an fast jedem Tag war der Schriftzug IMAGINE mit frischen Blumen geschmückt, heute in Form eines Peace-Zeichens aus den Blütenblättern von roten Rosen, die seltsamerweise nicht wegwehten. Die Besucher warteten geduldig, bis sie an der Reihe waren - vielleicht weil es eine Gedenkstätte war - und dieses ganz besondere Foto machen konnten, das sie dann auf Snapchat, Instagram oder einer anderen von ihnen bevorzugten Social-Media-Plattform mit einem John-Lennon-Zitat posteten, zum Beispiel ein paar Zeilen aus einem Beatles-Song oder etwas aus jenem Lied, in dem alle Menschen in Frieden lebten.
Simon trug Anzug und Krawatte. Er hatte die Krawatte nicht gelockert, als er sein Büro im World Financial Center in der Vesey Street verlassen hatte, um hierherzukommen. Ihm gegenüber saß eine - wie nannte man sie heutzutage? Obdachlose? Berberin? Drogenabhängige? Psychisch Kranke? Bettlerin? - ganz nah am berühmten Mosaik und spielte für Kleingeld Beatles-Songs. Die "Straßenmusikerin" - vielleicht eine wohlwollendere Bezeichnung - schrammelte auf einer verstimmten Gitarre herum und krächzte mit gelben Zähnen etwas über Penny Lane, die "in her ears and in her eyes" sei.
Eine befremdliche oder zumindest komische Erinnerung schoss Simon durch den Kopf: Simon war ständig an diesem Mosaik vorbeigekommen, als seine Kinder klein gewesen waren. Paige musste etwa neun, Sam sechs und Anya drei Jahre alt gewesen sein, als sie von ihrem Apartment, das nur fünf Blocks von hier entfernt zwischen der Columbus Avenue und Central Park West an der 67th Street lag, regelmäßig über Strawberry Fields zur Alice-in-Wonderland-Statue am Ostrand des Parks spazierten. Was sonst fast nirgends auf der Welt erlaubt war, hier war es kein Problem. Kinder durften auf den gut drei Meter hohen Figuren von Alice, dem verrückten Hutmacher, dem weißen Kaninchen und ein paar scheinbar unpassenden Riesenpilzen herumklettern und -krabbeln. Und Sam und Anya liebten das, sie wuselten auf den Figuren herum, wobei Sam irgendwann immer zwei Finger in Alice' Bronze-Nasenlöcher steckte und Simon zurief: "Dad! Guck mal, Dad! Ich popel in Alice' Nase!", woraufhin Sams Mutter Ingrid unweigerlich seufzte und leise "Jungs" murmelte.
Aber Paige, ihre Erstgeborene, war schon damals ruhiger gewesen. Sie setzte sich mit einem Malbuch und unbeschädigten Wachsmalstiften auf eine Bank - sie mochte es nicht, wenn ein Stift zerbrach oder sich die Papierhülle löste&