Tod auf der Fashion Week
1. Sie fiel.
Es war der vierte Tag der New Yorker Fashion Week, ein warmer Abend im September. Der Geruch des nahenden Herbstes lag schon in der Luft. Einige Kilometer südlich der weißen Zelte im Bryant Park, in denen Designer aus der ganzen Welt ihre Frühjahrs-Kollektionen präsentierten, stürzte das deutsche Model Anna Hansen aus ihrem Penthouse-Apartment im siebten Stock eines Brownstone-Hauses fünfzehn Meter in die Tiefe, vorbei an roten Ziegelsteinen, schmiedeeisernen Feuertreppen, geschlossenen Jalousien und Blumen auf Fensterbänken.
Sie fiel lautlos und schnell.
Eine Sekunde später schlug ihr Körper auf den aufgeheizten Fußweg der Prince Street und blieb, halb nackt und seltsam verrenkt, neben einem zertretenen Starbuck-Kaffeebecher liegen.
Schnell bildete sich eine Blutlache neben ihrem Kopf. Das Blut lief über die Steine an ihrem hoch gerutschten T-Shirt und den entblößten Brüsten entlang zur Hüfte hinunter, erst am Gürtelsaum der Jeans hielt das Rinnsal inne.
Ein letztes Mal war die Frau mit dem Fünf-Sterne-Deluxe-Lächeln den Blicken der Menschen preisgegeben. Von allen Seiten eilten sie heran und starrten in das ungeschminkte Gesicht mit den großen braunen Augen, die nun weit offen standen.
Dem Gesetz der Schwerkraft folgend, dreht sich ein Körper beim Fall aus großer Höhe mit dem Schwerpunkt nach unten. Wenn es sich dabei um einen menschlichen Körper handelt, prallt er zuerst mit dem Becken und dem Rücken auf den Boden, dann mit den Gliedmaßen. So geschah es, dass zwar der hintere Teil von Anna Hansens Schädel zertrümmert wurde. Aber ihr berühmtes Gesicht, das auf mehr als 3000 Magazin-Cover in Frankreich, Italien, Deutschland, Japan, England und den USA zu sehen war, blieb unversehrt.
Hier kommen die empirischen Daten der Polizei ins Spiel, sie belegen eindrucksvoll eine zwingende Vermutung: Wenn sich jemand durch einen Sprung aus dem Fenster das Leben nehmen will, schlägt er stets ein gutes Stück vom Haus entfernt auf - eben weil er gesprungen ist. Dagegen landet das Opfer eines Verbrechens immer nahe der Wand, weil es versucht haben wird, den Sturz zu verhindern.
Der Körper von Anna Hansen lag auf der imaginären Linie, die das Eine vom Anderen trennt.