Tod auf der Kohleninsel
Fund auf der Kohleninsel
Bernard Bosman holte weit aus und schleuderte einen Knüppel mit aller Kraft über die Kohlehalde hinweg. Sein Hund schoss sofort nach vorn. Der Knüppel drehte sich langsam vor dem violettfarbenen Himmel und verschwand nach einigen Umdrehungen im Gegenlicht der untergehenden Sonne trudelnd hinter der schwarzen Kuppe. Blacky, der temperamentvolle Labrador, folgte dem Stock mit kurzen Sätzen, Kohlenstaub stieg auf, als er über den Grat sprang.
Bernard Bosman atmete tief ein und ging leicht in die Hocke, um das Glitzern der Sonnenstrahlen im Staub der Kohle besser sehen zu können. "Morgen male ich das", murmelte er.
Blacky bellte. Das war ungewöhnlich. Der ehemalige Polizeihund, der Bernard von seinem Vater anvertraut worden war, bellte, wenn er einen Angreifer stellte oder einen Fund anzeigte, aber nicht, wenn er apportierte.
Bernard lief um die etwa sechs Meter hohe Halde, an deren Fuße er gehockt hatte, herum. Als er auf der anderen Seite ankam, musste er blinzeln. Die untergehende Sonne blendete ihn. Blacky bellte noch immer. Als Bernard ihn erreichte, verstand er, warum. Der Sommerabend hatte seine Unschuld verloren.
Er stolperte einige Schritte zurück und zog sein Handy aus der Hemdtasche, tippte kurz auf das Kontaktfoto seines Vaters. Freizeichen.
Theo Bosman, nur gut zwei Kilometer entfernt, hörte den Refrain von "The Rising". Er öffnete die Augen und las in der oberen rechten Ecke seines Gesichtsfeldes: "Horst Schimanski". Weiß auf blau. Dann verstand er. Er lag in der Schimmi-Gasse. Bruce Springsteen hörte auf zu singen.
Theo Bosman griff sich an den Kopf. Ein taubes Gefühl. Benommen schaute er nach links und rechts. Keine Menschenseele. Ein Schiffsdiesel schickte sein beruhigendes Tuckern vom Rhein rüber. Er richtete sich auf, war unsicher auf den Beinen, stützte sich mit der linken Hand an einer Hauswand ab. Erneut meldete sich sein Handy. Er fingerte es aus der Innentasche seiner alten Lederjacke. Das Display zeigte seinen Sohn Bernard.
"Papa, du musst kommen. Auf die Kohleninsel. Hier liegt eine Leiche", rief Bernard. Seine Stimme zitterte, während er hastig mit Blacky an der Leine in Richtung seines Schiffs lief.
Theo wollte mit seinem Sohn sprechen, konnte es aber nicht. Seine Zunge streikte. Taumelnd lief er die paar Schritte zum Geländer, das den Vinckekanal von der Promenade trennte. Seine Finger kribbelten. Bei seiner letzten Ohnmacht war das auch so gewesen. Mit der rechten Hand wischte er sich fahrig über die Augen. Sein Blick schweifte über das Heck des Museumsdampfers "Oskar Huber", über das graue Wasser im Hafenbecken und die Speditionsinsel hinweg auf den Rhein. Ruhrort, an einem lauen Augustabend. Ruhrort, wie an jedem anderen Tag. Das geschäftige Treiben klang bereits aus.
Langsam spürte Theo Bosman seine Zunge wieder und versuchte, sich zu sortieren. Sein Sohn hatte also eine Leiche gefunden. Er holte das Handy wieder hervor, der Anruf war beendet. Er rief zurück. Aber Bernard ging nicht ran. Wo war der Junge? Wo lag sein Schiff, die "Alma", überhaupt?
Bernard und seine Frau Lea waren gestern Nacht erst aus Rotterdam zurückgekommen. So viel wusste er. Er wählte die Nummer seiner Schwiegertochter. Freizeichen, sonst nichts.
Theo Bosman sah sich um. An der Hauswand seiner Stammkneipe lehnte sein Fahrrad. Er hatte ein Bier bei Hübi getrunken. Er schaute auf seine Armbanduhr. Einundzwanzig Uhr dreiundfünfzig. Als das heute-journal begann, hatte er die Kneipe verlassen. Es waren also rund acht Minuten vergangen, in denen er offensichtlich ohnmächtig geworden war, Bernards Nachricht entgegengenommen und erfolglos versucht hatte, die Kinder zu erreichen.
Kohleninsel. Eine Leiche. Warum hatte Bernard nicht die Polizei gerufen? Was hatte er damit zu tun? Es half nichts, er musste da rüber. Gute zehn Minuten, länger würde er mit dem Rad nicht bis zur Kohleninsel brauchen.