Todesfracht
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Ein Schrei weckte Victoria Ballinger.
Er rettete ihr auch das Leben.
Tory war die einzige Frau an Bord des Forschungsschiffes Avalon der Royal Geographic Society, nachdem ihre Kabinengefährtin eine Woche zuvor wegen einer akuten Blinddarmentzündung in ein Krankenhaus in Japan gebracht worden war. Eine Kabine für sich allein zu haben trug entscheidend zu ihrem Seelenheil bei.
Das Schiff befand sich seit einem Monat auf See. Es beteiligte sich an einem internationalen Programm zur Erforschung der Strömungen im Japanischen Meer, einer weithin unbekannten Region, weil Japan und Korea ihre Fischereirechte eifersüchtig schützten und glaubten, dass jede Form von Kooperation sie gefährden konnte.
Im Gegensatz zu ihrer Mitbewohnerin, die einige Koffer voller Kleidung und persönlicher Utensilien mitgebracht hatte, lebte Tory ausgesprochen spartanisch auf dem Schiff. Abgesehen von ihrem Bettzeug und einer kleinen Kollektion von Jeans und Rugbyshirts, die für eine Woche reichte, war ihre Kabine leer.
Der Schrei kam aus dem Korridor vor ihrer Kabinentür. Es war ein männlicher Schrei entsetzlicher Qual, der sie aufgeschreckt hatte. Noch während sie sich den Schlaf aus den Augen rieb und ihre Umgebung zunehmend deutlicher erkannte, hörte sie gedämpfte Schüsse. Ihre Sinne schärften sich: Sie konnte Maschinengewehrfeuer, laute Rufe und weitere Schreie unterscheiden.
Jedermann an Bord der Avalon war gewarnt worden, dass es eine Bande moderner Piraten auf Schiffe im Japanischen Meer abgesehen hatte. Die Seeräuber hatten während der vergangenen beiden Monate vier Schiffe angegriffen, die Frachtschiffe versenkt und es den wenigen noch lebenden Matrosen überlassen, sich mit Rettungsbooten selbst in Sicherheit zu bringen. Bisher hatten nur 15 von insgesamt 172 Personen diese Angriffe überlebt. Erst gestern waren sie darüber informiert worden, dass ein Containerschiff praktisch spurlos verschwunden war. Wegen der Piratengefahr war auf der Kommandobrücke ein Waffenschrank aufgestellt worden, doch die beiden Schrotflinten und die einzige Pistole konnten gegen die Sturmgewehre, die die Gruppe Wissenschaftler und Seeleute mit einem Kugelhagel überschütteten, nicht das Mindeste ausrichten.
Der Fluchtinstinkt übernahm das Kommando, und Tory schwang sich schnell aus der Koje. Sie verschwendete zwei wertvolle Sekunden damit, eine Wahl zu treffen, die sie gar nicht hatte. Es gab keinen Ort, den sie in diesem Augenblick hätte aufsuchen können. Die Piraten befanden sich irgendwo im Korridor vor ihrer Kabine und schossen in die Räume hinein, wenn sie den Lärm richtig deutete. Sie würde in dem Moment niedergeschossen werden, in dem sie die Tür öffnete. Sie konnte nicht fliehen, und in ihrem Raum gab es nichts, was sie als Waffe hätte einsetzen können.
Das Licht eines vollen Mondes, das durch das Bullauge drang, fiel auf das abgezogene Bett gegenüber ihrem eigenen und brachte sie auf eine Idee. Sie riss die Decken und Laken von ihrem Bett und stopfte sie unter den Bettrahmen. Dann holte sie ihre Kleider aus dem Spind und achtete darauf, seine Tür ebenso offen stehen zu lassen, wie beim Spind ihrer abwesenden Mitbewohnerin. Sie vermutete, dass sie keine Zeit mehr hätte, ihre Toilettenutensilien aus dem Bad zu holen. Sie kroch unter das Bett, drückte sich in die fernste Ecke und verteilte die Kleider um ihren Körper.
Sie hatte Mühe, einen gleichmäßigen Atemrhythmus beizubehalten, als sich der erste Panikanfall am Rand ihres Bewusstseins ankündigte. Tränen sickerten aus den Winkeln ihrer blauen Augen. Sie unterdrückte ein Schluchzen, als ihre Kabinentür aufgestoßen wurde. Dann sah sie einen Taschenlampenstrahl durch den Raum wandern. Er huschte zuerst über Judys leeres Bett, ehe er ihr eigenes kontrollierte und schließlich auf den beiden leeren Spinden verharrte.
Die Füße des Piraten kamen in Sicht. Er trug schwarze Kampfstiefel, und sie konnt