Vergeltung
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An jenem Samstagmorgen Ende November 1944 lagen in dem Lokschuppen im holländischen Seebad Scheveningen drei ballistische, je fünfzehn Meter lange Raketen: in stählernen Betten, die öligen Decken zurückgeschlagen, und an Monitore angeschlossen wie verhätschelte Patienten einer Privatklink. Die Techniker in den formlosen, grauen Drillich-Overalls des deutschen Heeres kümmerten sich um sie.
Der Winter, der sechste in diesem Krieg, war streng wie immer. Die Kälte drang vom Betonboden noch durch die dicksten Stiefelsohlen und schien in Fleisch und Knochen zu steigen. Einer der Männer trat einen Schritt von seiner Werkbank zurück und stampfte mit den Füßen auf dem Boden auf, um den Kreislauf in Schwung zu halten. Er war der einzige, der keine Uniform trug. Der dunkelblaue Anzug aus Vorkriegszeiten, die Stiftekollektion in der Brusttasche und die schon etwas fadenscheinige karierte Krawatte wiesen ihn als Zivilisten aus - auf Mathematiklehrer hätte man getippt oder einen jungen Dozenten einer Naturwissenschaft. Nur wenn man das Öl unter den abgekauten Fingernägeln bemerkt hätte, wäre man vielleicht auf den Gedanken gekommen: ah, richtig, ein Ingenieur.
Er konnte die Brandung der Nordsee hören, die Wellen, die in kaum hundert Meter Entfernung unentwegt auf den Strand schlugen, die kreischenden, im Wind schaukelnden Möwen. Erinnerungen kamen hoch, zu viele Erinnerungen, wie er fand. Er war versucht, die Gehörschützer aufzusetzen, um die Geräusche auszublenden. Aber dann wäre er noch mehr aufgefallen. Außerdem hätte er sie ohnehin alle fünf Minuten abnehmen müssen, weil er dauernd irgendeine Frage beantworten musste - über das Triebwerk, die Druckbeaufschlagung im Alkoholtank oder die elektrische Verkabelung, mit der die Rakete von Bodenstrom auf interne Energieversorgung umgeschaltet wurde.
Er machte sich wieder an die Arbeit.
Es war kurz vor halb elf, als an der Rückseite des Schuppens eine der großen, stählernen Rolltüren zur Seite geschoben wurde und der Soldat daneben Haltung annahm. Mit einem kalten Regenschwall betrat Oberst Walter Huber, Kommandeur des Artillerieregiments, den Schuppen. Er wurde von einem Mann begleitet, der einen langen, schwarzen Ledermantel trug, auf dessen Revers die silbernen SS-Insignien prangten.
»Graf!«, rief der Oberst.
Dreh dich weg, war Grafs erster Gedanke. Nimm den Lötkolben, und beug dich über die Werkbank, als hättest du alle Hände voll zu tun.
Aber Huber konnte man nicht entrinnen. Seine Stimme dröhnte, als befände er sich auf dem Exerzierplatz. »Hier haben Sie sich also verkrochen! Da ist jemand, der Sie kennenlernen möchte.« Seine hohen Lederstiefel knarzten, als er mit scharfen Schritten die Werkstätte durchquerte. »Sturmscharführer Biwack vom Nationalsozialistischen Führungsstab«, sagte er und führte den Fremden herein. »Sturmscharführer, das ist Doktor Rudi Graf von der Heeresversuchsanstalt Peenemünde. Er ist unser technischer Verbindungsoffizier.«
Biwack hob den Arm zum Hitlergruß, den Graf argwöhnisch erwiderte. Er hatte zwar schon von den NSFOs gehört, aber noch nie einen getroffen. Sie waren Kommissare der Nazipartei, die erst vor kurzem auf Befehl des Führers installiert worden waren und den Kampfgeist der Truppe stärken sollten. Die Sorte Fanatiker, die erst nach der letzten Patrone aufgab. Je schlimmer die Lage wurde, so schien es, desto mehr wurden es.
Der SS-Mann musterte Graf von Kopf bis Fuß. Er war um die vierzig, nicht unsympathisch. Er lächelte sogar. »Sie sind also eins von diesen Genies, die uns den Krieg gewinnen?«
»Das bezweifle ich.«
»Graf weiß alles über die Rakete«, sagte Huber schnell. »Er kann Sie einführen.« Er wandte sich an Graf. »Sturmscharführer Biwack gehört ab jetzt zu meinem Stab. Er hat die höchste Sicherheitsfreigabe. Sie können sich ihm ganz anvertrauen.« Er schaute auf