Versumpft
2. Schulgespräche
"So, dann können wir heute ja mal ausnahmsweise ein bisschen chillen, vielleicht ein Filmchen schauen oder ..."
"Das machen wir schon seit Wochen. Können wir zur Abwechslung nicht ein bisschen Unterricht machen? Mündliche Prüfung vorbereiten? Es ist immerhin die letzte Doppel-Stunde vor dem Mündlichen!"
Erstaunt nahm ich meine Stiefelchen vom Pult und ging auf die Klasse zu. Das waren ja ganz neue Töne. Lernen, sie wollten etwas lernen? Zum Zeichen meiner uneingeschränkten Autorität nahm ich meine Hände aus den Hosentaschen und wedelte mit dem rechten Zeigefinger Kurven in die stickige Klassenzimmerluft.
"Okay, die schriftlichen Prüfungen sind geschrieben, ihr kommt in Deutsch ins Mündliche. Wenn ihr unbedingt wollt, können wir das noch mal wiederholen, was prüfungsrelevant ist ... zum 100. Mal! Und passt bitte auf, das ist die letzte Einheit vor der Prüfung."
Ich nickte in das kleine Häuflein derer, die ich nun nicht mehr ganz fachfremd auf die Deutschprüfung vorbereiten musste. Die aktuelle politische Situation hatte es erforderlich gemacht, dass ein Großteil qualifizierter Deutschlehrer abgezogen wurde, um Flüchtlingen, überwiegend aus Syrien, die schöne deutsche Sprache beizubringen, damit sie ihren, so kanzlerinnensuggeriert, angestammten Berufen als Ärzte, Architekten und qualifizierte Techniker deutschkundig nachgehen könnten. So kam ich in den letzten Ferien und nach vielen Fortbildungsstunden zu einer Schnellbleiche "Große Fakultas Deutsch. Ein Sonderlehrgang für motivierte BS-Lehrer". Natürlich hatte ich da sofort zugeschlagen. Mit Geografie und Katholischer Religionslehre saß man quasi auf einem Schleudersitz. Und speziell ich mit meiner beruflichen Genesis war schon öfters ins schulische Schleudern geraten und immer wieder im Fokus übertriebener Beobachtungen durch das Oberschulamt. Also Schnellbleiche, neue Fahrt, neues Glück.
Und jetzt: "Die Leiden des jungen Werthers" mit Genetiv-S. Das war wichtig, das "s". Von einem gewissen Goethe. Dann, als ob das nicht ausreichen würde, um die Studierfähigkeit an einer Fachhochschule zu erlangen, auch noch das Adoleszenzdrama "Frühlings Erwachen" von einem mir gänzlich unbekannten Herrn Wedekind. Aber mit einer Portion "Kommunikation", Schulz von Thun und Watzlawick, etwas Literaturgeschichte light und eben den literarischen Themen hatten wir genug Pulver für eine ansprechende mündliche Prüfung beieinander.
"Okay, wir leben nicht in Nordkorea, demokratische Abstimmung, wo sind noch Lücken? Was soll wiederholt werden? Also ich plädiere für den Werther!"
"Nein, Kommunikation!"
"Ich habe noch Lücken bei Frühlings Erwachen!"
"Ich bei der Literaturgeschichte!"
"Ich begreife gar nichts bei Frühlings Erwachen!"
"Kommen Balladen auch noch dran? Da bin ich voll blank!"
Also entschied ich mich für den Werther. Der Briefroman, da kannte ich mich am besten aus.
"So, nehmt eure Lektüre heraus. Geht mal zur ersten Herbst-Passage. Was fällt da auf?"
Die drei Schülerinnen und zwei ihrer männlichen Kollegen griffen zum gelben, kaum briefmarkengroßen Format und blätterten widerwillig darin.
"So, nun vergleicht mal diese Herbstszene mit der ersten Frühlingsszene. Welche Unterschiede in der psychischen Verfasstheit des Werther lassen sich herausarbeiten? Ihr habt 20 Minuten Zeit. Obwohl, das wird euch mal wieder nicht reichen, machen wir gleich 40 Minuten. Also geht jetzt ran, ihr habt genügend Zeit. Wenn ihr gut arbeitet, gibt es abschließend noch ein paar heiße Tipps zur Prüfung."
Es war ein zähes Ringen mit den Schülern und ihrem Intellekt, die Sprache des stürmenden und drängenden Goethe in Einklang mit den Waaas? und Häääs? und Lols und Omgs der Schüler zu bringen. Abschließend, um größere Katastrophen zu verhindern, gab ich einen der angekündigten heißen Tipps:
"Leute, alle mal zuhören! Wie ge