Mein geflicktes Herz
Fast eine kleine Schande
Ich bin 1925 in einem kleinen Dorf in Südbaden geboren - damit fiel meine Kindheit in die Zeit der Weltwirtschaftskrise und in den aufkommenden Nationalsozialismus, meine Jugend fand während des Zweiten Weltkriegs statt und als ich mit 21 Jahren volljährig war, befand sich Deutschland mitten in der Nachkriegszeit. Gewiss, es war eine harte Zeit, aber es war trotzdem auch eine gute Zeit. Das habe ich vor allem meinen Eltern Joseph und Maria Bayer zu verdanken.
Wir waren fünf Kinder: Mein Bruder Eugen war der Älteste, nach ihm kam ich auf die Welt, dann folgten meine Geschwister Hans, Laura und Kilian. In den 1920er Jahren waren Familien mit fünf Kindern eine Seltenheit und auch im Kreis der Verwandten meiner Eltern war das außergewöhnlich. Fünf Kinder zu haben, war fast eine kleine Schande. Das bekam meine Familie sowohl von Seiten der Dorfbevölkerung, als auch von Seiten der Verwandtschaft deutlich zu spüren. Die Brüder und Schwestern meiner Eltern hatten jeweils nur ein oder zwei Kinder - lauter Söhne, die dann auch noch alle studierten. Auf uns Bayer-Kinder schaute man immer ein wenig herab. Meine Eltern taten aber ihr Bestes, um das auszugleichen. Sie nahmen sich - ungewöhnlich für die damalige Zeit - sehr viel Zeit für uns Kinder. Und sie waren ausgesprochen aufgeschlossen, was unsere Erziehung anging (davon später mehr). Sie schufteten und schufteten und schafften es, dass es uns Kindern auch während des Krieges an nichts mangelte. Mein Geburtsort Ringsheim hatte in den 1920er/30er Jahren um die 1500 Einwohner und die Menschen lebten von der Landwirtschaft und von der Arbeit in den Zigarrenfabriken. Auch wir waren Selbstversorger: Meine Eltern hielten Kühe und Schweine, wir bewirtschafteten Reben, wir bauten Kartoffeln und vielerlei Gemüse an und wir besaßen große Obstgärten. Wir Kinder mussten früh und hart in der Landwirtschaft mitarbeiten und es ist uns nichts geschenkt worden. Aber meine Eltern waren nicht wie die anderen, sie waren fortschrittlicher und ihrer Zeit im Denken sowie in der Erziehung voraus. So hatte ich einerseits das Gefühl, dass die anderen auf uns herabschauten, andererseits aber fühlte ich, dass wir etwas "Besseres" waren.
Das hat mich geprägt.
Die Familie bei der Arbeit in den Reben: Mein Vater, mein Großvater Ignaz Baumann und meine Mutter stehen in der hinteren Reihe. Vorne mein Bruder Eugen, mein Cousin Arthur, sowie meine Geschwister Hans, Kilian und Laura (von links). Ich war einen Tag vorher beim Spielen vom Dach gefallen und hatte mir den linken Arm gebrochen. Deshalb bin ich nicht mit auf dem Bild.
Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs war mein Vater 16 Jahre alt, mit 17 wurde er eingezogen. Nach Ringsheim kehrte er verletzt zurück: Eine Gewehrkugel hatte ihm einen Nerv in der Handfläche durchschlagen, so dass sich die Hand verkrümmte. Trotzdem aber konnte er damit alle Arbeiten erledigen. Ursprünglich sollte mein Vater eine Ausbildung bei einem Verwandten in Karlsruhe machen. Dieser hatte keine Kinder und hätte meinen Vater gerne als Nachfolger gehabt. Doch der Verwandte starb kurz vor Kriegsende, so dass mein Vater nie eine Ausbildung machte. Eine Zeit lang war er arbeitslos, schließlich fand er eine Anstellung als sogenannter Akquisiteur beim Führer-Verlag in Karlsruhe. Er war einer der ersten Akquisiteure dort. Der Führer-Verlag gab ab 1927 die Zeitung "Der Führer" heraus, das Presseorgan der NSDAP im Gau Baden. Die Zeitung erschien zunächst wöchentlich, ab 1931 dann täglich. Gedruckt wurden sowohl Morgen- als auch Abendausgaben. Als Akquisiteur war mein Vater für den Verkauf von Abonnements zuständig. Und er machte wirklich gute Geschäfte.
Viele Menschen fühlten sich nach der "Machtergreifung" durch Hitler im Januar 1933 vom Nationalsozialismus angezogen und wollten die Zeitung lesen. Hinzu kam, dass mein Vater ein guter Verkäufer war. Er war nicht nur ein schöner Mann,