Mimenmord
Klinikum
Station 17-3 des Universitätsklinikums
Theodor-Kutzer-Ufer 1-3
Mannheim
Sonntag, 4. 12. 2011 - zweiter Advent
Kurz nach 22 Uhr
Der Greis starrte an die Zimmerdecke seines Einzelzimmers: weiße, mit dem Grauschleier der Jahre überzogene Platten aus einem Kunststoff, dessen Namen er nicht zu sagen wusste. Pockennarbig waren sie und gerillt, als nage unmerklich der Zahn der Zeit an ihnen, doch stets nur des Nachts, wenn er schlief. Seine Hände ruhten auf der fadenscheinigen Klinikbettdecke, sie waren vom gleichen Weiß. Nur waren die Venen seiner Hände nicht schmutziggrau, sondern dunkelviolett.
Fünf Wochen lag er nun schon hier. Palliativstation. Vollstationäre Behandlung wegen einer fortgeschrittenen Tumorerkrankung. Das Team, das ihm umgab, umfasste Ärztinnen und Ärzte, Krankenschwestern und Krankenpfleger, zwei Seelsorger, eine Psychologin, eine Sozialarbeiterin und eine Physiotherapeutin. Darüber hinaus gab es allerlei ehrenamtliche Helfer sowie eine Musik- und eine Maltherapeutin. All diese Menschen, sie kamen und gingen. Der Greis hatte es längst aufgegeben, sich ihre Namen zu merken, denn für ihn waren sie austauschbar - bis auf die Psychologin, die Honigblonde, die ehrenamtlich hier Dienst tat. Das Sterben sei Teil des Lebens, hatte sie gesagt, als wäre das ein Trost. Doch das hatte er längst gewusst, und es half ihm nicht weiter, kein bisschen. Dennoch, sie hatte sich bemüht, hatte seine Hand gehalten, wie es sonst nur die Mädchen taten, mit dem Daumen seinen Handrücken gestreichelt, beinahe zögerlich, und gute Worte für ihn gehabt. Das hatte ihm wohlgetan. Ihren Namen hatte er sich gemerkt.
Sicher, sie versuchten nach Kräften hier, all das zu lindern, was ihn belastete. Gegen die Schmerzen bekam er Morphium. Es kam aus dem Gerät neben seinem Bett, und er wusste, er war schon lange nicht mehr ohne dieses süße Gift. Wie lange, das wusste er nicht, doch seit das stete Tropfen seine Nächte und Tage begleitete, war er in diesem Dämmerzustand, der ihm manchmal angenehm, zu Zeiten regelrecht segensreich, in den meisten der langen Stunden aber vor allem ängstigend und unwirklich war.
Immer häufiger wünschte er sich, er habe die Kraft, die matte, geäderte Hand zu heben und die Dosis zu erhöhen. Zur tödlichen Dosis. Sich fortschlafen, sich wegstehlen aus diesem Leben, diesem Elend, diesem Drecksdämmer. Doch nein. Er war noch nicht am Ende. Er durfte nicht gehen. Noch war es nicht vollbracht.
Essen konnte er schon lange nicht mehr aus eigener Kraft. Er wurde künstlich ernährt, hatten die Mädchen ihm gesagt, und vage war er sich bewusst, dass unter seiner Bettdecke etwas war, das nicht zu seinem Körper gehörte. Abgemagert war er, fast zu einem Skelett, ein Knochenmann. Siebenundvierzig Kilo bei knapp einem Meter achtzig Größe, er, der doch immer ein so stattlicher Mann gewesen war ... nun sah er fast so aus wie seine Mutter, seine geliebte Mutter, auf den Bildern, den grauenerregenden, mit der Zeit vergilbten, mit den teilnahmslos starrenden, halbtoten Gefangenen und den Lagerzäunen ...
Der Greis träumte von Gas und von Leichenbergen, und mit der Zuverlässigkeit, die am Ende nur das Grauen zu entwickeln vermag, kamen die Ängste.
Die Ängste waren das Schlimmste. Wie wollten sie das in den Griff bekommen, diese Halbgötter in Weiß? Überhaupt, was wussten sie von den Ängsten des alten Mannes auf Zimmer Zwei, von den Nachtschrecken, die über ihn kamen, wann immer er träumte, die wie ein Albdruck auf seiner Brust hockten und ihm die Luft raubten, von der Atemnot und dem eisigen Schweiß?
Die Chemotherapie hatte nicht angeschlagen. Die Strahlen, denen man