A single kiss
1
Ella
»Gut, da sind Sie ja endlich!«
Einen Moment lang krame ich in meinem Gedächtnis nach seinem Namen. Als ich fündig werde, sage ich: »Es tut mir so leid, Mr. Gibson.« Seufzend werfe ich dem Mann mit dem Dreitagebart und den verwuschelten dunkelblonden Haaren einen entschuldigenden Blick zu. Zu der verschlissenen Jeans trägt er ein ebenso mitgenommen aussehendes Metallica-T-Shirt. Lässig stützt er sich in den Türrahmen, während er mich neugierig betrachtet. Durch die hohen, filigranen Absätze meiner Louboutins bin ich fast ebenso groß wie er. »Ich habe den Zug in London verpasst.«
Was nicht gänzlich gelogen ist ... Allerdings wäre das wohl kaum passiert, wenn Aline und ich gestern Nacht nicht noch ewig geredet hätten. Gute Gespräche und teurer Wein sind eine großartige Kombination - zumindest, wenn man keinen Zug erwischen muss. Nun bin ich, zwei Stunden später als geplant, in Plymouth eingetroffen.
Zum Glück scheint mein neuer Vermieter, der überraschend jung ist - vielleicht Mitte dreißig, wenn es hochkommt -, nicht allzu sauer zu sein. Er wirkt lediglich etwas gehetzt, als er mich hereinbittet und mich durch einen schmalen Flur in die Küche führt. Im ersten Stock hustet sich jemand die Seele aus dem Leib. Klingt nicht gesund! Neugierig sehe ich mich um. Das Haus ist verdammt klein. Vielleicht war es doch keine so gute Idee hierherzukommen. Möglicherweise hatte Henri recht, denn ja, selbst mein Bruder fand meinen Plan, nach England zu gehen und in eine Studenten-WG zu ziehen, bescheuert.
Du kannst nicht davor davonlaufen, wer du bist. Wir sind, wer wir sind!, hallt seine Stimme in meinem Kopf wieder.
»Alles in Ordnung, Emmanuelle?«, fragt Mr. Gibson.
»Oh, bitte nennen Sie mich einfach Ella«, erwidere ich automatisch, während mir sehr deutlich bewusst wird, dass gar nichts okay ist. Unwillkürlich erinnere ich mich an den Trümmerhaufen, den ich in Paris zurückgelassen habe. Weder Papa noch Étienne haben sonderlich verständnisvoll oder unterstützend auf mein Vorhaben reagiert.
Bei dem Gedanken an Étienne wird mir ganz schwer ums Herz. Vermutlich war es dumm zu hoffen, dass er mich hierherbegleitet und sicherstellt, dass ich gut ankomme. Ja, das war wohl reichlich vermessen. Nicht nur, weil er ohnehin viel zu tun hat, sondern auch, weil er über meinen Entschluss wirklich verärgert ist.
Trotzdem glaube ich, dass ich - im umgekehrten Fall - mit ihm hergekommen wäre.
»Geht klar, dann also Ella«, erwidert mein Vermieter und schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln. »Können wir die Sache mit dem Mietvertrag schnell hinter uns bringen? Ich muss gleich wieder zurück nach Rame auf die Baustelle und eine Lieferung annehmen.« Sein Blick huscht zu dem Handy, das er in der Hand hält.
Das schlechte Gewissen, weil ich dafür verantwortlich bin, dass er unter Zeitdruck geraten ist, nagt an mir. Von oben ist erneut anhaltender Husten zu hören.
»Natürlich! Wo soll ich unterschreiben?«
Er reicht mir die Papiere. Ich blättere bis zur letzten Seite und setzte meine Signatur auf den Mietvertrag sowie die dazugehörige Kopie, ohne ihn gelesen zu haben. Mein Vater würde ausflippen, doch ich will Mr. Gibson nicht noch mehr Unannehmlichkeiten bereiten. Wir besiegeln die Vertragsunterzeichnung mit Handschlag.
»Dann wünsche ich dir eine schöne Zeit hier. Wenn was sein sollte, dann schreib mir einfach eine Mail oder ruf mich an.« Er geht in den Flur. »Du findest dich doch zurecht, oder?« Sein Blick fällt auf meinen Koffer. »Soll ich dir den schnell noch nach oben tragen?«
»Nein, das ist nicht nötig. So schwer ist er ja nicht.«
»Bist du sicher, dass du ein ganzes Jahr bleiben willst?«
»Ja, wieso?«, frage ich verwirrt.
»Na, weil du mit verdammt leichtem Gepäck reist.«
Ich verkneife mir, ihn darauf hinzuweisen, dass der Rest meiner Sachen in