All das Ungesagte zwischen uns
Kapitel 1
MORGAN
Gibt es das nur bei uns Menschen oder kennen auch andere Lebewesen das Gefühl, innerlich leer zu sein?
Wie kann es sein, dass in mir all das ist, woraus Körper so bestehen - Knochen, Muskeln, Blut, Organe -, und ich trotzdem das Gefühl habe, man könnte mir in den Mund brüllen und das Echo würde von den Wänden meines Brustkorbs widerhallen?
So geht das jetzt schon seit Wochen. Ich hatte gehofft, es würde von selbst wieder verschwinden, aber allmählich fange ich an, mir Sorgen zu machen. Eigentlich fehlt mir in meinem Leben nichts. Ich bin jetzt schon seit fast zwei Jahren mit einem sehr süßen Jungen zusammen, und wenn ich die paar Situationen nicht mitzähle, in denen sich Chris wie eine unreife Knalltüte aufführt (meistens in Verbindung mit Alkohol), ist er genau der Freund, den sich jedes Mädchen wünscht: fröhlich, witzig, sieht gut aus, liebt seine Mutter und weiß, was er will. Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese innere Leere etwas mit ihm zu tun hat.
Dann habe ich auch noch Jenny - meine ein Jahr jüngere Schwester und gleichzeitig beste Freundin. Ich liebe sie über alles, obwohl sie das komplette Gegenstück zu mir ist. Jenny ist spontan, sagt immer, was sie denkt, und hat ein herzhaftes Lachen, um das ich sie beneide. Ich bin zurückhaltender als sie und finde, mein Lachen klingt manchmal ein bisschen gepresst.
Wir machen immer Witze darüber, wie gegensätzlich wir sind und dass wir uns wahrscheinlich nicht ausstehen könnten, wenn wir keine Schwestern wären. Jenny fände mich todlangweilig, und mir würde ihre laute Art auf die Nerven gehen, aber weil unser Altersabstand so gering ist und wir immer schon ein Superteam waren, fühlt es sich für uns eher an, als würden wir uns gegenseitig ergänzen. Klar haben wir unsere Reibereien, aber wir vertragen uns auch schnell wieder. In letzter Zeit machen wir sogar noch mehr miteinander als sonst, weil sie seit Kurzem mit Chris' bestem Freund Jonah zusammen ist. Die beiden waren im Jahrgang über mir und haben gerade ihren Abschluss gemacht. Seit Beginn der Sommerferien sind wir praktisch ständig im Viererpack unterwegs.
Hat dieses Gefühl der inneren Leere womöglich was mit meiner Mutter zu tun? Aber ich wüsste nicht, warum sie mir auf einmal fehlen sollte. Sie spielt schon lange keine wirkliche Rolle mehr in unserem Alltag. Ich habe mich damit abgefunden, dass Jenny und ich in der Elternlotterie nicht das große Los gezogen haben. Seit dem Tod unseres Vaters vor fünf Jahren ist Mom in unserem Leben praktisch nicht mehr vorhanden. Am Anfang war ich noch wütend, dass ich für Jenny quasi die Mutterrolle übernehmen musste, aber mittlerweile ist das okay für mich. Im Gegenteil, je älter ich werde, desto angenehmer finde ich es, dass da niemand ist, der sich ständig einmischt, uns vorschreibt, wann wir zu Hause sein sollen, und sich Sorgen um uns macht. Mit siebzehn habe ich Freiheiten, von denen andere in meinem Alter nur träumen. Es ist echt merkwürdig. In meinem Leben hat sich in letzter Zeit nichts verändert, was dieses Gefühl erklären könnte.
Oder ist da womöglich doch irgendwas, und ich habe nur Angst, mich damit auseinanderzusetzen ...?
»Ich hab Hank getroffen«, unterbricht Jenny vom Beifahrersitz aus meine Grübeleien. Jonah fährt und Chris und ich sitzen hinten. Ich hatte aus dem Fenster in die Dunkelheit gestarrt, jetzt sehe ich meine Schwester an, die sich mit leuchtenden Augen zu uns umdreht. Heute sieht sie ganz besonders süß aus. Sie hat sich eins von meinen Maxi-Kleidern geliehen und ist nur ganz wenig geschminkt. Ich habe mich noch nicht so richtig daran gewöhnt, dass die sechzehnjährige Jenny so ganz anders ist als die fünfzehnjährige. »Er hat versprochen, uns für heute Abend was zu besorgen.«
Chris hebt grinsend die Hand und Jenny klatscht ihn ab. Ich sehe wieder aus dem Fenster und verbeiße mir jeden Kommentar. Ich weiß nicht, wie ich es