Auf der Insel des Glücks
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Eve hatte im Laufe des Tages ihre Unruhe nicht abwerfen können, nicht einmal der romantische Abendspaziergang hatte geholfen.
Unvermittelt hatte ein Hauch von Winter Einzug gehalten. Am frühen Nachmittag war plötzlich ein Sturm aufgezogen, der sich nach einer Stunde wieder gelegt hatte, und es waren mindestens fünf Zentimeter Schnee gefallen. Die Stimmung draußen war so romantisch gewesen, dass sie sich ihre Stiefel und die Daunenjacke angezogen hatte und noch einmal am Abend spazieren gegangen war, diesmal nicht am Strand entlang, sondern ins Städtchen.
Einige der Fenster in den verwinkelten Gassen waren hübsch dekoriert, nicht überladen, sondern schlicht: mit Zweigen, umrankt von Flechten, bemoosten Ästen und immergrünen Pflanzen, dann und wann aufgelockert durch dicke Kerzen, gerade in dieser Einfachheit passend zu den bescheidenen Häuschen. Die Lichter der alten Laternen spiegelten sich in den Augen der wenigen wider, die es Eve gleichgetan und dem Schneezauber nicht hatten widerstehen können. Man lächelte sich freundlich an, wenn man sich begegnete, gewiss, dass die weiße Pracht alle gemeinsam in nostalgische Träumerei versetzte.
Eve war dem Pfad weiter ins Landesinnere gefolgt, der sie zum Loch Kintail führte. Hier waren sie noch vereinzelt zu finden, die raren Waldkiefern, die jetzt im feinen Nebel, der über das Wasser waberte, und mit Zauberschnee bedeckt wie Kunstwerke wirkten. Auch hüteten Naturschützer hier zwei Adlerpaare und einige scheue Birkhühner am Fuße des Mary's Head, dem zum Leidwesen der Bevölkerung satte fünfhundert Fuß fehlten, um es zu einem Munro zu bringen, und der mit seinen zweitausendfünfhundert Fuß ein sogenannter Corbett war.
Sister's Rock gefiel ihr im Herbst und Winter am allerbesten. Dann waren die Touristen fort, und die Einheimischen genossen die Harbour Street und die Main Street oder die zahlreichen Seitengässchen, die man nun ohne Unterbrechung auf und ab flanieren konnte, wenn man wollte. Und obwohl man dankbar war, dass die Touristen ein Einkommen ermöglichten, mischte sich unter diese Dankbarkeit die Erleichterung, wenn Monate des Verschnaufens diese ebenso anregende wie aufregende Zeit ablösten.
Auch Eve dachte an ihre Jugend, als sie noch alle gemeinsam in dem großen Haus gewohnt hatten - die Großeltern, die Eltern, Eve, Amy und der unverheiratete Bruder ihres Vaters, Brad, der damals noch alle vierzehn Tage zwei Wochen lang frei hatte, was heute längst nicht mehr der Fall war. Heute umsorgte er den Leuchtturm ganzjährig allein, mit Ausnahme eines kurzen Sommerurlaubs, an dem er natürlich von einem Kollegen vertreten wurde. Dabei fühlte er sich keineswegs einsam, wie er immer wieder versicherte, schließlich gab es Sammy und Shelby, seine beiden Hunde. Und Freunde und frühere Kollegen, die ihn besuchten.
Der Himmel wusste, wie sie alle es immer geschafft hatten, sich nicht gegenseitig auf die Nerven zu gehen. Was natürlich nur daran gelegen hatte, dass das Haus viel Platz bot und sie tagsüber außer Haus beschäftigt waren oder, wie sie und Amy, die Schule besucht hatten. Die Mutter arbeitete damals als Lehrerin an der Grundschule.
Es war Eve natürlich klar, dass sie mit ihrem Haus und dem riesigen Grundstück zu den Privilegierten zählte. Bei dem Besitz handelte es sich um ein relativ großes Steinhaus, das allein auf einer der zahlreichen Halbinseln lag, die die Lockenpracht von Mary's Head bildeten. Ihr Großvater hatte das Haus, das genauso marode gewesen war wie das Haus von Amy und Christopher heute, vor über siebzig Jahren von der Tochter des Erbauers erworben. In dem elenden Zustand, in dem es sich damals befand, hatte er es mithilfe der großen Familie und vieler Freunde renovieren können.
Östlich von Amys und Christophers Haus, auf einer weiteren fast gleich großen Halbinsel, befand sich der mittelalterliche unbewohnte Turm, der, wie man munkelte, demnächst restauriert würde.