Bernsteinsommer
Hiddensee, im Sommer 1917
Grete band sich das blonde Haar zu einem Zopf, griff nach ihrem Eimer und schritt, den Blick auf den Sand zu ihren Füßen gerichtet, am Spülsaum entlang. Sie war jeden Tag unterwegs gewesen, seitdem ihre Mutter ihr die Kette mit dem hübschen glatten Anhänger in der Farbe von flüssigem Honig geschenkt hatte. Das sei ein Bernstein, hatte sie ihr erklärt. Ein ganz besonderer Stein des Meeres, den man am Ufer finden könne. Aber bisher hatte Grete kein Glück gehabt. Am Ende des Tages brachte sie stets nur Kieselsteine und manchmal ein paar durch den Sand und das Meer rund geschliffene bunte Glasstücke in das Zuhause, das die Mutter stolz »unser Sommerhaus« nannte.
»Heute werde ich etwas finden«, murmelte Grete vor sich hin, ging in die Hocke und stocherte mit einem Stock zwischen Algen und Seetang herum. Als sie wieder aufsah, bemerkte sie eine sonderbar gekleidete Gestalt, die unter einem weißen Schirm in einer Ausbuchtung des Steilhangs stand. Grete blinzelte, legte eine Hand über die Augen und sah etwas genauer hin. Es war eine Frau mit einem geflochtenen Zopf. Auf ihrem Kopf saß ein weiter Schlapphut. Und sie trug Hosen! Mit kerzengeradem Rücken stand sie vor einem Gestell aus Holz, den Blick fest auf das Meer gerichtet. Neugierig ging Grete etwas näher heran und tat dabei so, als würde sie weiter den Boden absuchen. Die Frau aber schien keine Notiz von ihr zu nehmen. Auch als Grete direkt an ihr vorbeilief, beachtete die Fremde sie nicht.
Ihre Mutter hatte ihr eingebläut, jeden Menschen auf der Insel immer freundlich zu grüßen, egal ob Sommergast, Fischer, Hafenarbeiter oder Landwirt.
»Guten Tag«, murmelte Grete leise wie zu sich selbst. »Was für ein herrliches Wetter, finden Sie nicht auch?«
Sie bückte sich, um einen schwarz-weiß gesprenkelten Feuerstein aufzuheben, in dem sie ein kreisrundes Loch entdeckt hatte. Dann drehte sie um und watete am Saum der Brandung zurück. Genau auf Höhe der Frau, aber weit genug entfernt, um notfalls schnell weglaufen zu können, blieb sie stehen. Sie stellte den Eimer in den Sand, hielt den Stein gegen die Sonne und spähte mit einem Auge durch das Loch. Dann stieß sie laut in bewunderndem Ton aus: »Oh, der ist aber schön!«
Endlich nahm die Frau Notiz von ihr. »Na, komm schon her!«, rief sie. Ihre Stimme klang ungeduldig, aber nicht unfreundlich.
Grete blickte sich kurz um. Ihr Bruder Günther, der auf sie aufpassen sollte, saß mit lang ausgestreckten Beinen auf seinem Strandtuch und hielt sein Gesicht in die Sonne. Nachher ist er bestimmt rot wie ein Krebs, dachte sie. Geschah ihm recht. Sie konnte es gar nicht leiden, dass er sie immer noch wie ein Kleinkind behandelte, dabei war sie schon sechs. Aber solange er die Nase in die Sonne reckte, achtete er sowieso nicht auf sie. Entschlossen griff Grete nach ihrem Eimer und ging zu der fremden Frau hinüber.
»Wie heißt du, Kind?«
»Grete.«
»Na schön, Grete, dann tu nun bitte genau das, was du eben getan hast, als du den Stein gefunden hast.«
»Den Lochstein?«
»Genau, heb ihn hoch und schau hindurch, ich will dich dabei zeichnen.«
»Sie sind ein Maler?«, fragte Grete. Aber warum trug dieser Mann dann einen Zopf?
»Eine Malerin«, verbesserte die Frau und lachte. »Und jetzt steh still, du hast ein hübsches Profil, das möchte ich einfangen.«
Grete verstand zwar nicht, was die Dame genau damit meinte, aber stillstehen konnte sie. Das hatte sie schon oft gemusst, wenn sie Unfug angestellt hatte und Günther sie bestrafen wollte. Seit der Vater in den Krieg gezogen war, spielte er sich auf, als wäre er der Herr im Haus, obwohl er erst fünfzehn war.
»Sehr schön«, lobte die Malerin. »Gut machst du das.«
Die Sonne blendete Grete, und ihre Augen fingen an zu tränen, aber sie blieb reglos stehen und lauschte dem Kratzen des eigenartigen Stifts, mit dem die Malerin über ein Stück Pa