Das Buch Ana
18.
Ein Diener, ein alter Mann mit einem verkrüppelten Arm, trat Yaltha, Lavi und mir am Tor entgegen. »Meine Tante und ich sind gekommen, um Tabitha unsere Aufwartung zu machen.«
Er musterte uns. »Ihre Mutter hat mich angewiesen, dass niemand zu ihr darf.«
Yaltha schlug einen gebieterischen Ton an. »Dann sag ihrer Mutter, hier steht die Tochter des Matthias, des Obersten Schriftgelehrten von Herodes Antipas und Vorgesetzten ihres Mannes. Sag ihr, er würde Anstoß daran nehmen, wenn seine Tochter zurückgewiesen wird.«
Der Diener schlurfte zurück ins Haus und war wenige Minuten später wieder da, um das Tor zu öffnen. »Nur das Mädchen«, sagte er. Yaltha nickte mir zu. »Lavi und ich warten hier auf dich.«
Das Haus war nicht so prachtvoll wie das unsere, verfügte jedoch, wie die meisten Behausungen von Palastangestellten, über ein oberes Stockwerk und zwei Höfe. Tabithas Mutter, eine beleibte Frau mit einem Gesicht wie eine Zwiebel, führte mich zu einer geschlossenen Tür am anderen Ende des Hauses. »Meiner Tochter geht es nicht gut. Du darfst nur ein paar Minuten hinein«, sagte sie und ließ mich zu meiner Erleichterung allein eintreten. Als ich den Riegel zurückschob, schlug mein Herz wie eine Trommel.
Tabitha lag zusammengerollt auf einer Matte in der Ecke. Als sie mich erblickte, drehte sie das Gesicht zur Wand. Ich blieb einen Moment lang stehen, damit meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten, unschlüssig, was ich tun sollte.
Schließlich ging ich zu ihr hinüber, setzte mich neben sie und legte ihr nach kurzem Zögern die Hand auf den Arm. In diesem Moment drehte sie sich zu mir, berührte mich mit der Hand, und ich sah, dass ihr Auge vollkommen zugeschwollen war. Ihre Lippen waren grün und blau verfärbt, die Backen aufgedunsen, als hätte sie den Mund voller Speisen. Eine Schale - es war eine besonders kostbare aus Gold - stand neben ihr auf dem Boden und schimmerte im Zwielicht, angefüllt mit etwas, das aussah wie eine Mischung aus Blut und Speichel. Ein Schluchzen entrang sich meiner Kehle. »Oh, Tabitha.«
Ich zog ihren Kopf an meine Schulter und strich ihr übers Haar. Ich hatte ihr nichts zu bieten, als hier an ihrer Seite zu sitzen und ihr in ihrem Kummer und Schmerz beizustehen. »Ich bin hier«, murmelte ich. Als sie nichts erwiderte, sang ich ein altbekanntes Schlaflied für sie, das einzige, das mir einfiel. »Schlaf, mein Kleines, schlaf ein. Die Nacht ist da, der Morgen fern, und ich, ich hab dich gern.« Ich sang es wieder und wieder, schaukelte sie in meinen Armen wie in einer Wiege.
Als ich aufhörte zu singen, schenkte sie mir ein mattes Lächeln, und erst jetzt sah ich den Stofffetzen, der seitlich aus ihrem Mund hing. Ohne mich aus den Augen zu lassen, nahm sie ihn und zog ihn langsam durch ihre Lippen, ein langer Streifen Leinen, der kein Ende zu haben schien. Als sie ihn endlich entfernt hatte, hob sie die Schale an und spuckte hinein.
Ekel wallte in mir auf, doch ich ließ mir nichts anmerken. »Was ist mit deinem Mund passiert?«
Sie öffnete ihn, sodass ich hineinschauen konnte. Ihre Zunge - oder das, was von ihr übrig war - war nur noch eine Masse aus rohem, verstümmeltem Fleisch. Sie zuckte hilflos in ihrem Mund, als Tabitha zu sprechen versuchte, doch es kam nur ein unverständliches Lallen heraus. Ich starrte sie fassungslos an, dann traf mich die Wahrheit wie ein Schlag. Man hatte ihr die Zunge herausgeschnitten. Die Zunge aus meiner Vorahnung.
»Tabitha!«, rief ich. »Wer hat dir das angetan?«
»Vaaa-er. Vaaaah-er.« Ein rotes Rinnsal tröpfelte ihr übers Kinn.
»Versuchst du zu sagen 'Vater'?«
Sie packte mich an der Hand, nickte.
Ich weiß nur noch, dass ich aufsprang, benommen und verzweifelt. Ich erinnere mich nicht daran, geschrien zu haben, doch die Tür wurde aufgerissen, und ihre Mutter stand vor mir, schüttelte mich, versuchte, mich zur Räson zu bringen. Ich machte mich von