Das Flüstern der Bäume
Gottes Mittelfinger
Das erste Licht sickert durch die Zweige, als Jake die Pilgergruppe dieses Morgens am Ausgangspunkt des Pfads begrüßt. Heute wird sie sie unter den himmelhohen Spitzen der Douglastannen und Riesenlebensbäume und zwischen granitenen, mit elektrisch glitzerndem grünem Moos überzogenen Felsnasen hindurch zum Primärwald führen, wo die Erleuchtung wartet. Aufgrund des angekündigten Regens ist das Pilgerdutzend in Leafskin gehüllt, den atmungsfähigen Stoff, der Gore-Tex ersetzt hat und durch seine nanotechnischen Eigenschaften die wasserabweisende Wirkung von Blättern nachbildet. Obwohl auch Jake von der Kathedrale mit einer Leafskin-Jacke ausgestattet wurde, trägt sie sie selten, aus Furcht, Firmeneigentum zu beschädigen; sie ist schon verschuldet genug. Doch als sie durch den Nieselregen trottet, wünscht sich Jake, sie hätte heute eine Ausnahme gemacht.
Sie hat zwar morgens vor der Arbeit einen Liter Kaffee in sich hineingeschüttet, doch Jakes verkatertes Gehirn fühlt sich wie Toffee an und pocht mit jedem ihrer Schritte schmerzhaft. In diesem jämmerlichen Zustand ist sie kaum fähig, vor Fremden das Wort zu ergreifen, beginnt aber bei den ersten Lichtungen des Primärwalds mit ihrer üblichen Einführung.
»Willkommen im pochenden Herz der Baumkathedrale von Greenwood«, sagt sie theatralisch. »Sie stehen auf siebenundfünfzig Quadratkilometern. Dies ist einer der letzten verbliebenen Primärwälder auf Erden.« Die Pilger zücken augenblicklich ihre Telefone und beginnen mit den Daumen auf die Bildschirme einzuhämmern. Jake weiß nie, ob sie den Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen überprüfen, Ausrufe atemlosen Erstaunens posten oder irgendetwas anderes, von der Führung völlig Unabhängiges tun.
»Diese Bäume fungieren als riesige Luftfilter«, fährt sie fort. »Ihre Nadeln saugen Staub, Kohlenwasserstoffe und andere giftige Partikel auf und atmen reinen Sauerstoff aus, der reich an Phytonziden ist, Chemikalien, die den Blutdruck senken und den Herzschlag verlangsamen. Eine dieser ausgewachsenen Tannen allein kann den täglichen Sauerstoffbedarf vier erwachsener Menschen stillen.« Wie auf Kommando beginnen sich die Pilger bei genussvollem Einatmen zu filmen.
Zwar darf Jake in ihrem kurzen Abriss die auf der Erde grassierenden Staubstürme erwähnen, doch die Richtlinien der Kathedrale verbieten es, ihre Ursache zur Sprache zu bringen: das Große Welken - der Pilz- und Insektenbefall, der die Wälder der Erde vor zehn Jahren überrollt und Hektar um Hektar getilgt hat. Die Pilger sind gekommen, um abzuschalten und nicht an das Welken zu denken, und es ist Teil von Jakes Job (und ihr ist durchaus bewusst, dass Jobs derzeit Mangelware sind), ihnen das zu ermöglichen.
Nach ihrer Einführung lockt sie die Pilger einige Kilometer in Richtung Westen in einen Hain echter Altholzriesen. Es sind Bäume von einer solchen Unermesslichkeit und Erhabenheit, dass sie unecht wirken wie Filmrequisiten oder Denkmäler. In der Gegenwart dieser Giganten nehmen die Stimmen der Pilger einen ehrerbietenden Tonfall an. Die offizielle Firmenpolitik von Holtcorp sieht vor, den Wald als die Kathedrale und seine Gäste als Pilger zu bezeichnen. Laut Knut, dem dienstältesten Waldführer von Greenwood Island und Jakes engstem Freund, liegt das daran, dass der Wald die erste Kirche war (und nun vielleicht die letzte ist). Zu einer Zeit, in der eine Flugreise noch kein Jahresgehalt verschlang, war Jake im Rahmen eines Schüleraustauschs einmal in Rom gewesen und hatte in den Säulen und Kolonnaden dort nur gekrümmte Äste und faserige Stämme gesehen. Die belaubte Kuppel der Moschee, die aufwärts strebenden Türme der Abtei, das gerippte Gewölbe der Kathedrale - waren nicht die Sakralbauten aller Glaubensrichtungen von Bäumen inspiriert?
Einige der Pilger beginnen jetzt tatsächlich, ganz frei von Ironie oder Beschämung Stämme zu umarmen. In ihren Informationsbroschüren werde