Das Geheimnis des Nordsterns
1. Kapitel
San Francisco, April 1905
Das gesamte Publikum stand. Rhythmisches Klatschen füllte den Saal der Grand Opera.
Sarah verneigte sich und lächelte in den dunklen Zuschauerraum. Irgendwo dort unten saß ihre Tochter Anne, aber sie konnte keine Gesichter erkennen. Neben ihr drehte und wendete sich ihr Partner, der Tenor Renato Russo, der die Rolle des Caravadossi gesungen hatte.
Was für ein eitler Fant er doch war. Es fehlte nur, dass er Handküsse in den Zuschauerraum warf. Prompt trat er einen Schritt vor, hob beide Hände an die Lippen, breitete sie aus und verzog seinen Mund zu jenem Lächeln, das ihm den Ruf als Herzensbrecher eingebracht hatte. Das kollektive Seufzen der Damen zog durch den Saal.
Was sie wohl sagen würden, wenn sie wüssten, dass Renato Russos bürgerlicher Name Jack Tuttle war und er eine Frau und zwei Kinder hatte?
Aber sie konnte ihn verstehen, auch sie trennte das Leben, das sie als Operndiva Emilia Rossi führte, streng von der Privatperson Sarah Tanner. Es war ein Zugeständnis an die Familie ihres verstorbenen Mannes. Undenkbar für die Witwe des Eisenbahnbarons Arthur Tanner, sich auf einer Bühne zu zeigen, selbst wenn es die der Grand Opera war.
Der Vorhang fiel und hob sich kurz darauf ein viertes Mal. Sarah strahlte Renato an, er verbeugte sich vor ihr, ergriff ihre Hand und hauchte einen Kuss darauf. Das Publikum begann zu trampeln. Es glaubte ihnen das Liebespaar, und wahrscheinlich würde die Presse wieder Vermutungen darüber anstellen, ob sie auch in Wirklichkeit ein Paar waren.
»Das war nicht schlecht, Liebste, vielleicht ein bisschen zu schrill in den Höhen«, raunte er ihr zu, als er sich wieder aufrichtete.
Sarah schluckte. So ein Mistkerl. Doch das konnte sie ebenfalls. »Ja, an deinen Höhen musst du wirklich noch arbeiten«, gab sie zuckersüß zurück.
Seine Miene gefror, er warf ihr einen mörderischen Blick zu. Sarah verwandelte das Grinsen in ihrem Gesicht in ein Lächeln. Viel lieber hätte sie die Tosca mit David Cameron gesungen, aber die Theaterleitung wollte sichergehen und hatte den Caravadossi mit Russo besetzt. Seine Auftritte garantierten einen Erfolg, zumindest bei den Damen, während man bei ihr nicht wusste, wie das Publikum ihren ersten Auftritt nach über einem Jahr Abwesenheit von der Bühne aufnehmen würde.
Russo führte Sarah nach vorn zum Rand der Bühne. Gemeinsam verneigten sie sich. Schließlich traten sie zurück, und der Vorhang senkte sich zum letzten Mal. Immer noch klatschten die Leute.
Die Premiere war ein Erfolg, soviel war sicher. Wie viel davon auf sie zurückzuführen war und wie viel auf ihren Partner, darüber würden sich die Kritiker und die Presse auslassen. Immerhin hatte sie für Vissi d'arte Szenenapplaus bekommen.
Es war das erste Mal, dass sie die Arie wieder für die Öffentlichkeit gesungen hatte, seit ihrem Schiffbruch und dem daraus folgenden viermonatigen Zwangsaufenthalt auf dem Robbenschoner Victory.
Sie hatte sich vorgestellt, Peer säße unter den Zuschauern. Vor einem Jahr, auf eben jenem Robbenfänger, hatte sie die Arie für ihn gesungen. Damals hatte sie zum ersten Mal wirklich begriffen, wie Floria Tosca gefühlt hatte, als sie mit ansehen musste, wie man ihren Geliebten folterte.
Peer war nicht ihr Geliebter gewesen, als der Steuermann ihn vor ihren Augen halbtot geprügelt hatte.
Noch nicht.
*
Am nächsten Morgen stand ein riesiger Kamelienstrauß auf dem Tisch in ihrem Salon. Sarah verdrehte die Augen. Ausgerechnet Kamelien, wie originell. Die konnten nur von Horatio Stoll, dem Direktor der Grand Opera, kommen. Die dazugehörige Karte bestätigte ihre Vermutung. »Großartige Leistung, liebste Emilia! Die Kritiker überschlagen sich vor Begeisterung.«
Neben der Vase lagen die neuesten Ausgaben des San Francisco Calls und des Examiners.
»Emilia Rossi ist wieder da