Das kleine Café an der Mühle
Der Rechtsanwalt
"Ich darf Sie daran erinnern, dass Sie um 15:30 Uhr den Termin mit der Erbin haben, Herr Dr. Knese."
"Ja, danke, Frau Weiherbart, ich habe es mir notiert."
Als sich die Tür hinter seiner Sekretärin schloss, setzte Hans-Werner Knese gedankenverloren ein Ausrufezeichen hinter den Eintrag in seinem Terminkalender, bevor er den Füller zuschraubte. Sophie von Metten hatte überraschend unaufgeregt am Telefon geklungen, als sie den Termin mit ihm vereinbart hatte. Normalerweise übernahm solche Terminabsprachen seine Sekretärin, aber dieser Anruf war auf seinen Wunsch hin direkt zu ihm durchgestellt worden, das war er Dotti schuldig. Ungewöhnlich, wie ruhig Dottis Nichte am Telefon geblieben war. Viele Menschen, die von einem Erbe erfuhren, wollten am liebsten gleich am Telefon wissen, was und wie viel sie erben würden. Aber in solchen Fällen blieb Knese hart, seine Mandanten hatten ihm zu Lebzeiten vertraut und bei ihm ihr Testament hinterlegt. Die letzten Wünsche eines Menschen besprach man nicht mal eben am Telefon.
Mit Dorothee von Metten hatte ihn eine lange Freundschaft verbunden. Schon als sie in Bad Godesberg gewohnt hatte, hatte sie seinen Rat gesucht. Dotti war öfter mit seiner Frau nach Köln ins Museum oder zum Shoppen gefahren. Auch als Dotti dann in dieses Dorf zwischen Mosel und Eifel gezogen war, waren sie in Kontakt geblieben.
Hans-Werner Knese war mittlerweile fünfundsechzig Jahre alt, seine Frau drängte ihn, beruflich kürzerzutreten, und Dottis plötzlicher Tod hatte ihn nachdenklich gemacht. Ich sollte mich wirklich mehr um Karin kümmern, als hier Stunde um Stunde über den Schriftsätzen meiner Mandanten zu brüten, dachte er. Aber damit konnte er morgen beginnen, heute musste er sich erst einmal um Dottis letzten Willen kümmern.
Er griff zum Telefonhörer und drückte die Taste für interne Gespräche.
"Frau Weiherbart, bevor ich das vergesse, könnten Sie mal die beste Verbindung von Koblenz nach, warten Sie, der Ort heißt Wümmerscheid-Sollensbach, heraussuchen? Nein ... keine Ahnung. Vielleicht eine Regionalbahn oder ein Bus. Ab wann? Nun, sagen wir so ab siebzehn Uhr. Danke schön."
Hans-Werner Knese fuhr sich mit der Hand durch seine grauen, schütteren Haare. Er kannte Sophie von Metten nicht, nahm aber an, dass sie nicht einfach nur das Testament kennenlernen wollte, um dann wieder zurück nach Hamburg zu reisen. Knese seufzte. Was hatte sich Dotti nur dabei gedacht? Wümmerscheid-Sollensbach - Dottis Nichte war nicht zu beneiden. Aber das hatte sie ganz allein zu entscheiden, er war nur den Wünschen seiner Mandanten verpflichtet.
Zwei Stunden später, pünktlich um halb vier, klopfte Frau Weiherbart wieder an seine Tür.
"Frau von Metten ist eingetroffen, Herr Dr. Knese. Ich habe sie in den Besprechungsraum geleitet. Sie möchte einen Kaffee und ein Wasser, darf ich Ihnen auch noch einen Tee bringen?"
"Gern, Frau Weiherbart, gern."
Hans-Werner Knese fragte sich, wann seine langjährige Sekretärin ihn wohl mal nur mit Herr Knese oder schlicht Chef ansprechen würde. Er hatte es ihr mehrfach angeboten, sogar das "Du" hatte er ihr vorgeschlagen, aber sie war hart geblieben. Sie bestand darauf, ihn weiterhin mit Dr. Knese anzureden. Na ja, das konnte ja jeder so handhaben, wie er wollte.
Knese nahm eine schwarze Aktenmappe vom Tisch und ging zum Besprechungsraum.
Sophie von Metten - das sah er gleich auf den ersten Blick - ähnelte in gewisser Weise ihrer verstorbenen Tante. Ihr zaghaftes Begrüßungslächeln zauberte die gleichen Grübchen hervor, wie Dotti sie gehabt hatte. Auch in Größe und Statur glichen sich die beiden Frauen: knapp einen Meter siebzig groß, schlank, ohne auffallend dünn zu sein. Knese räusperte sich, es kam nicht oft vor, dass ihm solche Äußerlichkeiten bei einem ersten Zusammentreffen mit einer Frau ins Auge sprangen. Ein wenig peinlich, wie er fand. Dotti