Das Weingut. Tage des Schicksals
Prolog
Kirche St. Ulrich in Altenstadt
April 1874
Am Arm von Herbert Stockhausen, ihrem zukünftigen Schwager, betrat Irene die festlich geschmückte Kirche St. Ulrich. Ihre Augen weiteten sich vor Staunen.
Das sanfte Licht unzähliger Wachskerzen täuschte darüber hinweg, dass draußen ein grauer Apriltag herrschte, der ab und zu sogar noch einige Graupelschauer niedergehen ließ, die der Wind durch die Straßen trieb. Überall erblickte sie große und kleine Blumenbuketts. Jede der voll besetzten Kirchenbänke war von Sträußchen aus rosa Tulpen und weißen Narzissen geziert, umwunden mit einer Spitzenschleife. Im Mittelschiff standen in regelmäßigen Abständen Gebinde aus betörend duftenden blauen Hyazinthen und weißen und rosa Tulpen auf kleinen Säulen. Die prachtvollsten Blumenarrangements befanden sich zu beiden Seiten auf den untersten Stufen des Altars vor den mit rotem Samt überzogenen Stühlen, die man eigens aus dem Altenstädter Herrenhaus herbeigeschafft hatte und auf die Irene nun zuschritt. An diesem Platz würden sie und Franz heute getraut werden. Für die rosa Rosen, die blauen Iris und weißen Lilien, die zu dieser Jahreszeit nur in Gewächshäusern gediehen, musste Franz ein Vermögen ausgegeben haben. Diese Überraschung war ihm wahrhaftig gelungen.
»Was ist dir bei unserer Hochzeitsfeier besonders wichtig?«, hatte er sie vor einigen Wochen gefragt.
»Dass wir ein friedvolles Fest miteinander begehen«, antwortete Irene spontan.
Franz schnaubte etwas ungeduldig. »Das versteht sich von selbst, mein Schatz. Aber meine Mutter möchte natürlich jetzt schon mit den Vorbereitungen beginnen. Worauf legst du am meisten Wert? Auf das Essen, die Musik, die Garderobe der Gäste ...«
»Blumen«, fiel Irene Franz spontan ins Wort. »Ich wünsche mir viele Blumen. Nichts Teures natürlich«, beeilte sie sich hinzuzufügen. »Tulpen, Narzissen oder was eben sonst gerade so blüht.«
Tatsächlich bestand ihr Brautstrauß aus Vergissmeinnicht und weißen und rosa Anemonen. Mathilde, Franz' jüngere Schwester, hätte ihn als gewöhnlich bezeichnet, doch es waren gerade diese bescheidenen Frühlingsboten, die zu Irenes Lieblingsblumen zählten. Umso prächtiger war nun die Kirche geschmückt.
Der Organist spielte feierliche Weisen. Im Bemühen, kerzengerade den mit einem roten Teppich belegten Gang hinunterzuschreiten, verfing sich einer der Absätze von Irenes hochhackigen elfenbeinfarbenen Seidenschuhen im Saum ihres Hochzeitskleides von gleicher Farbe und Stoff. Irene geriet ins Straucheln, wurde aber geschickt von Herbert Stockhausen aufgefangen.
»Immer mit der Ruhe«, hörte sie ihn leise raunen. Dankbar drückte sie seinen Arm.
Alles an dieser Feier war für Irene ungewohnt. Das kostbare Kleid mit der spitzenbesetzten, zwei Ellen langen Schleppe hatte die Weißenburger Schneiderin Madame Marat nach der neuesten Pariser Mode gefertigt. Der kleine Stehkragen betonte Irenes schlanken Hals, ein Einsatz aus geraffter Seide reichte vom keuschen Dekolleté bis zu dessen unterer Naht.
Irene hatte sich ein schlichteres Kleid gewünscht. Doch in diesem Punkt war ihre Schwiegermutter Pauline unnachgiebig geblieben. »Ich möchte, dass du in nichts hinter meiner Tochter Mathilde zurückstehst, die nur einen Monat nach dir heiraten wird. Da werden die Gäste natürlich besonders die Garderobe der Bräute miteinander vergleichen.«
Auch wenn Irene dies einleuchtete, vermutete sie noch einen anderen Grund hinter Paulines Beharrlichkeit. Eine späte Wiedergutmachung an meiner Mutter Sophia, die nie die Braut eines geliebten Mannes sein durfte, überlegte sie, während sie die langwierigen Anproben über sich ergehen ließ.
Sophia, die jüngere Schwester von Franz' angeheirateter Tante Ottilie, war als blutjunges Mädchen von Paulines verstorbenem Gatten Wilhelm geschwängert worden. »Eher vergewaltigt als verführt, während ich selbst