Der Apfelbaum
1
»Na, mal wieder die Mutter besuchen?«
Was ging das die Blumenverkäuferin an? Und dazu noch dieser unverhohlene Vorwurf in der Stimme. Was wusste sie schon? Hier in Spandau kannte jeder jeden. Unerträglich. Ich bezahlte eilig und verließ den Laden.
Mit den Blumen in der Hand bog ich in den schmalen Weg zwischen den Wohnblöcken. Immerhin hatte man damals daran gedacht, diese Schuhschachteln um eine Rasenfläche zu gruppieren. Meine Eltern hatten sich dort eingemietet, nachdem sie ihr Haus in Frohnau verkauft hatten, um den Großteil des Jahres in Spanien zu leben. Damit löste mein Vater das Versprechen ein, das er meiner Mutter Jahrzehnte zuvor, in den Fünfzigerjahren, gegeben hatte, als sie aus Argentinien zurückgekehrt war und sich in Deutschland nicht mehr zurechtfand. Dieses Land war nicht mehr ihre Heimat, konnte es nie mehr werden.
»Komm schnell rein.«
Meine Mutter stand in der Tür, nur mit einem Morgenmantel bekleidet. Bevor ich ihr die Blumen in die Hand drücken konnte, zog sie mich in den Flur. Ein paar Wochen waren seit meinem letzten Besuch vergangen. Der Herbst ging in Regen und Schnee über. Es war kalt geworden.
»Ich muss dir etwas erzählen.«
In ihrem kleinen Wohnzimmer drehte sie sich um und warf den Kopf in den Nacken.
»Ich habe geheiratet.«
Ein Flugzeug donnerte über die Siedlung hinweg. Mein Vater war vor neun Jahren, am 24. Dezember 2001, gestorben.
»Warum hast du mir nichts davon erzählt?«, fragte ich.
Sie sah mich prüfend an, wartete einen Moment.
»Keine Sorge, er ist schon wieder tot.«
»Wie ... aber ...«
»Leberschaden.«
»Ach.«
»Ja, wie dein Vater, da war's auch die Leber, aber schon damals im Krieg. Ganz plötzlich ist er umgefallen. Tot. Bei Carl war es ähnlich. Er hat deinen Vater im Krieg kennengelernt. Sie sind zusammen in Russland im Lager gewesen.«
»Wie ... wer ist in Russland gestorben?«
»Na, dein Vater.«
»Nein.«
»Nein?« Sie lachte ungläubig. »Ich muss es ja wohl wissen, er war ja schließlich mein Mann, auch wenn wir unter Adolf nicht heiraten durften.«
»Nein, er kann nicht während des Krieges gestorben sein, sonst wäre ich ja nicht geboren ... oder er wäre nicht mein Vater.«
»Natürlich war er dein Vater. Das wär ja noch schöner! Was soll denn das? Ideen wie ein altes Haus, das dem Einsturz nahe ist.«
»Na, ich bin 1957 geboren, er kann ja nicht im Krieg gefallen, also gestorben sein, meine ich, und mich dann zwölf Jahre nach Kriegsende gezeugt haben ...«
Sie starrte mich wütend an.
«Bei dir haben sie wohl eingebrochen und vergessen zu klauen.« Ihre trüben Augen fixierten mich. »Das ist ja zum Piepen, ist das! Also jetzt pass mal auf, der Carl, der hat mir sehr viel Geld hinterlassen, weil, na ja, er wollte, dass ich abgesichert bin, weißt du, und da er mit seiner Sippe wegen mir immer Ärger hatte ...«
»Warum denn?«
»Na, er kam aus der Familie Benz.« Sie machte eine Pause und sah mich vielsagend an.
»Benz?«
»Ja. Daimler Benz.«
Der Name war wie ein Achtzylinder über ihre Zunge gerollt.
»Und warum hatte er deinetwegen Ärger mit seiner Familie?«
»Manchmal bist du aber wirklich schwer von Kapee. Warum wohl? Die haben natürlich Angst vor Erbschleichern. Außerdem war Carl sehr viel jünger als ich. Das hat denen natürlich auch nicht gepasst.«
»Wie alt war er denn?«
»So genau weiß ich das jetzt nicht mehr. Siebenundvierzig? Manches vergesse ich inzwischen, weißt du? Vielleicht auch sechsundvierzig, also Ende vierzig oder Anfang ... na ja.«
»Aber ich dachte, er sei mit Papa in russischer Gefangenschaft gewesen?«
»Das habe ich doch gesagt. Hast du wieder nicht zugehört?«
»Nein, ich meine nur, dass er dann nicht Ende vierzig gewesen sein kann ... also, wenn er zusammen mit Papa in dem russischen Lager