Der Clan des Greifen - Staffel I. Dritter Roman: Das Vermächtnis
Eleonore schreckte auf und lauschte mit angehaltenem Atem. Bis auf das leise Säuseln des Windes am Fenster war es still. Sie hatte geschlafen und wusste nicht, ob der Ruf, den sie vernommen hatte, Wirklichkeit gewesen war oder einem Traum entstammte. Ja, dachte sie, allmählich zu sich kommend, eine andere Erklärung gab es nicht. Sie musste geträumt haben, wenn sie auch keine Erinnerung an einen Traum hatte. So erging es ihr meistens, und wenn es einmal anders war, waren ihre Träume blutrünstig und grausam gewesen. Dann sah sie Feuersbrünste, sah ihre beiden Söhne und ihre Schwiegersöhne, alle vom Krieg gezeichnet, den sie nicht verhindert hatte. Nein, mehr noch, insgeheim hatte sie diesen Krieg gutgeheißen. Und nun lag sie in ihrem Bett und lauschte auf Stimmen. Sie lachte bitter. Eleonore von Greifenberg, die Gräfin, die gehofft hatte, die Veränderungen der Zeiten aufhalten zu können. Die ihren Stand und ihren Stolz als adelige Frau einsetzen wollte, um die drückende Schuldenlast zu vermindern. Die jedoch Hass erzeugte, einen Hass, der sie seitdem ständig umgab. Selbst die Liebe wollte sie erzwingen, und das war ihr am allerwenigsten gelungen. Gott, du Allmächtiger, die Liebe! Ja, als Wolfram, ihr seliger Mann, gestorben war, glaubte sie, nie wieder lieben zu können. Dabei hatte seitdem eine ganze Reihe von Männern um ihre Gunst gebuhlt. Allen voran Herzfeld, der Bankier und Geldverleiher. Und Hagen, von dem sie nur ahnte, dass er sie bereits seit längerem begehrte. Den sie im Gegenteil immer nur kränkte, weil sie von ihm nur forderte und verlangte und ihm nie etwas zurückgab. Es war ihr bewusst, und sie kam sich, weiß Gott, schäbig vor deswegen. Wenn auch nicht schäbiger als Anton Fugger gegenüber, jenem Augsburger Kaufmann, der mit kühlem Verstand und großem Geschick nach und nach ein Vermögen verdiente. Aber deswegen bewunderte sie ihn nicht so sehr wie wegen seiner Warmherzigkeit. Fugger machte deutlich, wie sehr er sie schätzte, und sie konnte nicht umhin zuzugeben, dass auch sie ihn mochte. Mindestens so sehr wie Hagen. Und genau damit begann das ganze Unglück. Denn sie, die Gräfin von Greifenberg, entschied sich nicht für einen von ihnen.
Leise stöhnend warf sie den Kopf auf dem Kissen hin und her. Am liebsten wollte sie an gar nichts denken, was ihr aber nicht gelang. Am Ende war es wie bei allen Gedankenspielen seit dem Ende des sinnlosen Schlachtens: Es würde ihr reichen, wenn alles so bliebe wie bisher. Das wäre das Einfachste, weil sie sich für niemanden entscheiden müsste.
»Großmutter!«
Sie war sofort wach. Das musste ihr Enkel gewesen sein. Er schlief nebenan in einer kleinen Kammer. Damit sie ihn hören konnte, hatte sie die schwere Tür zwischen den beiden Räumen entfernen und durch einen dünnen Vorhang ersetzen lassen. Leise stand sie auf. In ihrem Schlafzimmer stand auf einem kleinen Tisch an der Wand eine Kerze. Sie brannte über die ganze Nacht, bis sie in den frühen Morgenstunden von selbst verlöschte. Die Flamme war bereits ganz klein und drohte bald auszugehen. Ein Zeichen dafür, dass der Morgen nicht mehr allzu fern war. Sie griff sich einen Leuchter mit einer frischen Kerze, entzündete diese an dem winzigen Wachslicht und schlich dann auf bloßen Füßen in die Schlafkammer ihres Enkelsohnes. Im Halbdunkel erkannte sie die Bettstatt, auf der der Junge lag. Er schlief, aber er schwitzte. Sein dunkelblondes Haar klebte ihm an der Stirn, daher griff sie sich den Saum ihres Nachtgewandes und tupfte damit vorsichtig die Stirn des Kleinen. Davon erwachte er.
»Großmutter ...?«
Seine Hand tastete nach der ihren.
»Bin ja da, mein Kleiner«, flüsterte sie.
»Sag, ist der Krieg zu Ende?«
»Ja, das ist er.«
»Ganz bestimmt?«
»Ja, mein Kind, ganz bestimmt.«
»Und er kommt auch nicht wieder?«
Sie zögerte mit der Antwort, schüttelte stumm den Kopf, was das Kind aber nicht sehen konnte. Dann erst antwortete sie.
»Nein, siche